Endstation Rußland
hatten, Gedichte zu lesen oder zu hören. Sie fühlten sich schon großartig und radikal genug. Auf dem Asphalt schlief der Dichter Andrej Rodionow. Neben ihm saß der traurige Punk Plaksa * und starrte stumm in den Hals einer Flasche. Die Flasche war leer. Der Schriftsteller Rachmaninow mit den Goldzähnen und der Verbrechervisage bettelte mit einer großen Schirmmütze die Passanten um Kleingeld an. Weitere Vertreter der Literaturszene debattierten angeregt, wo, was und wieviel sie am Vortag getrunken und mit wem sie sich anschließend geprügelt hatten.
Drinnen war ein anständigeres Publikum versammelt. Unter einem großen Saddam-Hussein-Porträt und einem kleinen Majakowski-Foto saßen junge Männer mit mannigfaltiger Kopf- und Gesichtsbehaarung und verschwommene Mädchen mit Piercings. Am Mikrophon stand mit krummem Rücken ein pubertär wirkender Junge und deklamierte forsch:
»Brüder! Ich will ficken!«
Die Zuschauer quittierten das mit zustimmendem Beifall. Der Dichter verbeugte sich und fuhr fort:
»Ich liebe dich …« – der Jüngling machte eine theatralische Pause. Das Publikum wartete mit angehaltenem Atem. »Zu ficken!« hauchte der Vortragende zum wachsenden Vergnügen der Versammelten.
* russ.: Heulsuse (Anm. d. Ü.)
Dann ging die kahle Dichterin Schura schlafwandlerisch zum Mikrophon. Schura begriff offenkundig nicht, wo sie sich befand, und schaute sich gehetzt nach allen Seiten um. Fast eine Minute lang lief sie auf der Bühne herum. Der Saal wartete schweigend. Endlich entdeckte die Dichterin das Mikrophon, und auf ihr Gesicht trat ein vager Ausdruck des Verstehens. Mit der Geste eines Rockstars riß sie den Mikroständer an sich, öffnete den Mund, stand eine Weile so da und sagte plötzlich:
»Ich habe Probleme …«
Dann verstummte Schura fatalistisch.
»Amphetamin, eine Flasche Wodka, Gras, 50 Pilze und zwei Pillen Aprophen«, erklärte Schuras Exmann, der neben Nikita saß, laut flüsternd.
»Ich habe Probleme …«, setzte Schura erneut an und blickte verzweifelt in die Menge.
Ein bekannter literarischer Schwuler reichte der kahlen Dichterin ein Büchlein, das auf der Seite mit dem Problem-Gedicht aufgeschlagen war. Schura drehte es hin und her, kroch kläglich in sich zusammen und versuchte, die Hände in die Taschen zu stecken. Traf aber nicht. Das Buch fiel zu Boden. Plötzlich war völlig klar, daß Schura nicht freiwillig kapitulieren würde.
»ICH HABE PROBLEME!!!« schrie sie, die Hände an den Mund gelegt wie auf Munchs Gemälde.
Jasja hielt es nicht mehr aus, schlich sich zur Bühne, riß das Buch unter Schuras Schuh hervor und soufflierte in rasendem Flüsterton:
»Ich habe Probleme mit der Artikulation …«
»ICH HABE PROBLEME MIT DER ARTIKULATION …«, wiederholte Schura wie ein träges Echo und fiel in Trance.
»Ich werde nicht reden ich kann nicht muß nicht«, zischte Jasja.
»ICH WERDE NICHT REDEN ICH KANN NICHT MUSS NICHT«, wiederholte die kahle Schura, Hoffnung schöpfend, daß dieser Alptraum irgendwann enden würde.
So kamen sie bis zum Ende des Textes.
»Und nun, Schura, hältst du den Mund und setzt dich auf deinen Platz«, befahl Jasja und klappte das Buch zu.
»UND NUN SCHURA HÄLTST DU DEN MUND UND SETZT DICH AUF DEINEN PLATZ«, echote Schura mit monotoner Roboterstimme.
Jasja packte die Dichterin wütend am Hosenbein. Schura fiel in die Arme ihres Exmannes und sank in tiefe Bewußtlosigkeit.
Jahre später stieß Nikita zufällig auf ein neues Buch der kahlen Dichterin. Das traurig berühmte Problem-Gedicht endete darin mit der Zeile UND NUN SCHURA HÄLTST DU DEN MUND UND SETZT DICH AUF DEINEN PLATZ. So war Jasja, von der nie etwas gedruckt worden war, in die Geschichte der russischen Literatur eingegangen.
Wieder stand ein Geschöpf mit kahlrasiertem Schädel vor dem Mikrophon. Diesmal war es männlichen Geschlechts. Und gab sich im Gegensatz zur überspannten Schura brutal. Die Beine schulterbreit gespreizt und die massive Gürtelschnalle mit dem faschistischen Adler, die seinen Bauch in zwei Hälften teilte, vorgereckt, verkündete der radikale Dichter düster:
»Rußland ist eine Hure! Rußland ist ein Aas! Rußland ist eine Närrin! Rußland ist Minerva!«
Die beiden Bäuche des Radikalen bewegten sich in verschiedene Richtungen: Wenn der Teil über dem Gürtel nach rechts ruckte, glitt der untere nach links. Die Brille mit dendicken Gläsern, die das zähnefletschende Gesicht krönte, verrutschte vor staatsbürgerlichem
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