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Endstation Rußland

Endstation Rußland

Titel: Endstation Rußland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natalja Kljutscharjowa
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»Behörde« erfuhr, gab er großzügig an seine Kampfgefährten weiter.
    »He, Tjoma, was kostet ein Staatsgeheimnis?« begrüßte Roschtschin ihn nun immer. Und schlug ihm vor, ein Fensterchen in die Wand des schrecklichen Gebäudes zu schlagen und ein Schild »Auskunftei Butman« nebst Preisliste danebenzuhängen.
    Tjoma fand zum Beispiel heraus, daß der FSB über ausnahmslos jeden eine Akte besaß. Die Akten der normalen gesetzestreuen Bürger waren dünn und langweilig: Geburtsort, Ausbildung, Arbeitsstellen, mit wem verheiratet. Mehr nicht.
    Die Akten derer jedoch, die für den Staat von gewissem Interesse waren, wurden immer dicker. Die »Akte Roschtschin« zum Beispiel enthielt mehrere wörtliche Mitschriften seiner Vorlesungen über Boris Sawinkow und den Roman Die Dämonen . Trotz Tjomas Versicherung, die Akten staubten im Archiv vor sich hin (in eben jenen Kellern, in denen der alte Butman die Folterkammern vermutete) und interessierten niemanden, mißfiel Roschtschin dieser Umstand außerordentlich. Einer seiner Studenten war ein Spitzel. Und das war unangenehm.
    Der Freundespflicht treuer ergeben als seinem Diensteid, stahl Tjoma Roschtschins Akte aus dem Archiv. Und überreichte sie Roschtschin feierlich zum Geburtstag der russischen Revolution. Er hatte auch den Namen desInformanten herausgefunden. Es war Margarita Rukossujewa. Jene Rita mit dem Slip. So weit konnte unerwiderte Liebe eine Frau treiben!
    Außerdem stieß Tjoma bei seinen Erkundungen der FSB-Archive auf die Akte von Michail Wostruchin – des blassen Mischa, den Roschtschin mit Henry Miller kuriert hatte. Die Akte enthielt eine Menge Fotos von Mischa unter roten Fahnen, auf denen Hammer und Sichel ein Hakenkreuz bildeten. Offenbar hatte Mischa, nachdem er eine stattliche Anzahl von »Tanias« beglückt hatte, doch noch das von Roschtschin fallengelassene Limonow-Buch unter seinem Bett gefunden, es gelesen und diesmal daran geglaubt.

    Die Karriere des Mannes in Zivil endete, wie es seine Mutter vorausgesagt hatte, ziemlich rasch. Eines Tages saß Tjoma in seinem Büro und las im Internet einen neuen Aufsatz von Žižek, den er übersetzen wollte. Da vernahm er hinter sich die Schritte des Commandore, und Tjomas Chef sprach den schicksalhaften Satz:
    »Sie gehen morgen auf Dienstreise. Nach Tschetschenien.«
    Tjoma stand auf und antwortete leise, aber tapfer wie ein Dekabrist beim Verhör:
    »Nein, nach Itschkerien fahre ich nicht!«
    »Dann schreiben Sie ein Entlassungsgesuch!« blaffte der Henker, Fanatiker und Mörder, wobei er sogar die unerlaubte Benennung der Rebellenrepublik ignorierte.
    Tjoma schrieb das Gesuch. Und dann tat er, wovon er, wie er sagte, seit seinem ersten Tag beim FSB geträumt hatte. Als er das Gesuch überreichte, beugte er sich hinunter und sagte seinem nun bereits Ex-Chef höflich ins Ohr: »Leck mich am Arsch!«
    Dann drehte er sich um und verließ langsam und würdevoll das Büro. Draußen allerdings verlor der »junge Rebell« die Nerven, und Tjoma rannte davon, vergaß sogar die Disketten mit den bereits übersetzten Žižek-Texten, was ihm hinterher sehr leid tat. Denn er mußte alles noch einmal übersetzen.
    »Was hab ich gesagt, Njuscha! Ich wußte doch, daß ich einen Helden großgezogen habe! Mein Fleisch und Blut! Meine Schule! Aus meinem Holz geschnitzt!« rief Jakow Petrowitsch, trank in seiner Küche »auf die Heldentat des Kundschafters« und verspürte zum ersten Mal seit langer Zeit eine vollkommene demokratische Befreiung.
    Dann trat Tjoma, der nach wie vor nicht für die »Sicherung der staatlichen Integrität der Russischen Föderation« kämpfen wollte, eine Doktorandenstelle an, womit er sich auf Jahre hinaus eine pazifistische Zukunft sicherte, und widmete sich dem Studium radikaler Parteien der Gegenwart. In seinem Quellenverzeichnis konnte der Doktorand Butman voller Stolz auf geheime Archive des FSB verweisen.

15
    Als sie beide neunzehn waren, wurde Jasja, die wilde freie Verse über tschetschenische Rebellen und linke Sozialrevolutionäre schrieb, zu einer radikalen Dichterlesung nach Moskau eingeladen.
    Im Zug stellte Jasja fest, daß sie alle ihre Texte verloren hatte. Auswendig aber konnte sie nur fremde Gedichte. Sie überlegte eine Weile, dann schüttelte sie unbekümmert ihre rot-schwarz-weiße Mähneund rief:
    »Ha! Ich hab’s! Ein kleines lyrisches Gedicht! Die werden alle ausflippen!«

    Vor dem Eingang zu dem Raum im Souterrain hingen Gestalten rum, die es nicht nötig

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