Endstation Rußland
zugesteuert.
Und dann bist du munter zum Rauchen in die Herrentoilette marschiert, denn es war in der ersten Woche des ersten Semesters, und du wußtest noch nicht, wohin anständige Mädchen zum Rauchen gingen.
Als sie zurückkam, überflutete sie Nikita, statt ihm das Feuerzeug zurückzugeben, mit Tausenden Ausrufezeichen und unglaublichen Geschichten über Lija Achedshakowa,»der auch dauernd die übelsten Sachen passieren«.
»Einmal ist sie bei der Probe in den Orchestergraben gefallen und hat sich das Bein gebrochen! Die Vorstellungen wurden abgesagt! Alle warteten darauf, daß der Achedshakowa der Gips abgenommen wird! Dann war endlich alles verheilt, und die Achedshakowa rannte zur Probe! Und hatte es so eilig, daß sie ausrutschte und sich das andere Bein brach! Stell dir das mal vor! Und wieder warteten alle! Endlich war sie wieder okay. Der Regisseur schickte ihr seinen Wagen, damit sie nicht wieder hinfiel, und alles schien gut, die Probe geht los, die Schauspieler sprechen ihre Monologe, und plötzlich bricht eine Kulisse zusammen und kracht auf die Bühne! Alle rennen auseinander! Bis auf die Achedshakowa! Sie heben die Kulisse hoch, und der Regisseur fragt völlig hysterisch: ›Na, Lija, welches Bein hast du dir diesmal gebrochen?!‹ Und sie piepst von unten kläglich: ›Den Arm!‹ …«
Das alles erzählte sie, wie sich nach einer halben Stunde herausstellte, weil das Feuerzeug, das sie sich von Nikita geborgt hatte, in ihrer Hand explodiert war. Was ihr furchtbar peinlich war. Nikita lachte und übersah die Warnsignale, die meldeten: »Achtung! Dehermetisierung!«
Doch die Einsamkeit hatte einen Riß bekommen. Die Einsamkeit war schon zerstört. Und das Mädchen, das Jasja hieß, »weil meine Eltern einen Jungen wollten und neun Monate lang mit einem Jaroslaw geredet haben«, pumpte Nikita, ohne daß sie selbst und schon gar nicht er es merkten, bereits das stärkste und heimtückischste Narkotikum ins Blut. Ohne das er nicht mehr leben konnte.
Das ist unmöglich unmöglich unmöglich.
Und es ist geschehen.
Und dann kam eine SMS, nach der er am liebsten noch lauter geschrien hätte. Jasja schickte ihm aus dem Zug die unerlaubten, tödlichen Worte: »Liebster! Ich will zu dir! Die können mich alle mal! Ich sitze hier und weine! Ich wollte immer nur zu dir!«
Der Rest war nicht druckfähig.
Zärtliche Worte, bei denen sie einander einmal genannt hatten, mit 17, 18, 19 … Stop!
Aus dem Gedächtnis gelöschte Worte.
Augenblicklich zu Pulver zermahlene Jahre des Überlebens in einer Welt ohne sie.
Das ist unmöglich unmöglich unmöglich.
Und es ist geschehen.
Gegen Morgen rief Jasja selbst an und sagte, sich an ihren Tränen verschluckend:
»Ruf mich nie mehr an! Such nicht nach mir! Und versuch nicht, mich zu sehen! Das ist besser für alle! DENN ES IST UNMÖGLICH! UNMÖGLICH!! UNMÖGLICH!!!«
»Nicht weinen, Jasja.«
»Weil ich dich auch LIEBE!«
»Nicht weinen.«
»Versprichst du, nicht anzurufen?«
»Ich verspreche es. Aber weine nicht.«
Und er hielt Wort. Und rief nicht mehr an. Und versuchte nicht, etwas über sie herauszufinden. Erwartete aber ständig, daß sie sich zufällig begegneten. Irgendwo in einerMetrounterführung. Auf dem Bahnhof. Auf dem Grund des Mittelmeers. Im Krater des Vesuv. Im Städtchen Dudki. An einem beliebigen Punkt des Erdballs, der dem Schicksal in den Kram paßte.
Er versuchte nicht, etwas zu erfahren. Und wußte nichts. Aber Roschtschin wußte Bescheid. Auch Junker wußte Bescheid. Doch alle schwiegen. Niemand sagte Nikita irgend etwas. Daß Jasja damals mit einem Arzt zusammenlebte, dessen Name die Geschichte nicht überliefert hat. Und daß der Arzt jede Menge Medikamente im Kühlschrank aufbewahrte. Und daß er in jener Nacht Dienst hatte. Und daß Jasja allein war. Und daß sie, nachdem sie »zum letzten Mal« mit Nikita gesprochen hatte, eine Packung Phenazepam, eine Handvoll Thorazine und zwei Packungen Diazepam mit Champagner runterspülte – »um einzuschlafen«. Und daß sie dann einschlief. Und noch immer schläft.
19
Roschtschin sagt: »Gib’s zu, du suchst doch gar nicht nach Rußland, du versuchst vor dir selber wegzulaufen. Vor den Löchern, die dieses Mädchen mit den bunten Haaren in dir hinterlassen hat.«
Ein Mädchen in der Metro sagt zu ihrer Freundin: »Das ist kein Sex. Es ist ein Gebet. Wir erschaffen es mit unseren Körpern. Eine Art archaisches Ritual, ein ekstatisches Sakrament. Das ist kein Orgasmus,
Weitere Kostenlose Bücher