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Endstation Rußland

Endstation Rußland

Titel: Endstation Rußland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natalja Kljutscharjowa
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Jasja fast jeden Abend.
    Dann war da noch der traurige Mensch mit Hut, der aufeiner hölzernen Flöte eine monotone Melodie blies. Er begrüßte um fünf Uhr morgens auf dem Dach eine Morgenröte, die außer ihm noch niemand sah.
    Und die Schwarzen, die ihnen von der anderen Seite der eben erst wieder heruntergelassenen Brücke entgegengelaufen kamen. Die Schwarzen hatten große Ledertrommeln dabei, die sie, auf dem Brückengeländer sitzend, mit rosa Händen schlugen, um die über der Newa aufgehende Sonne zu begrüßen.
    Oder die ältere Frau mit der Billigzigarette in der langen Spitze und mit den schwarz angelaufenen Silberringen an jedem Finger. Madame flanierte quer über den menschenleeren Litejny-Prospekt und sang mit einer ausgebildeten, verrauchten Baßstimme selbstvergessen Opernarien in einer der endlosen weißen Nächte.
    Das Glück war wie die Schalen einer durchsichtigen Muschel, die hinter ihnen zuklappten, während sie sich, ineinander wachsend, irgendwo oben auf der Brücke küßten.
    Sie konnten den ganzen Tag auf einer Bank im Garten des Fontänen-Hauses liegen und zuschauen, wie der Wind am leeren, blauen Himmel mit den Blättern der Linde spielte. Und sich dabei in einer Art Vogelsprache unterhalten, einer unverständlichen, die sie aus dem Stegreif erfanden und sofort wieder vergaßen.
    Nur ein einziges Wort aus dieser Sprache ist geblieben. Jasja fand, mit diesem Wort könne man am besten mit den Naturgewalten reden.
    »WENTSCH!« begrüßte sie freundlich die grauen Enten, die auf der Smolenka herumpaddelten. Die Enten schnatterten zustimmend und schwammen weiter.
    »WENTSCH«, flüsterte sie den weißen Blumen auf dem alten armenischen Friedhof zu. Die Blumen nickten, auf ihren dünnen Stielen wippend.
    »WENTSCH!« Jasja stand auf einer umgedrehten alten Tonne in der sprühenden Gischt der grünen Wellen des Finnischen Meerbusens und beschwor den Sturm.
    »WENTSCH!« Das vollkommen durchnäßte Mädchen mit den zehn Zöpfchen versucht das Donnern der rauhen Ostsee zu übertönen.
    »WENTSCH!« Nikita lauscht dem innigen Wort der kleinen Jasja nach – der gleiche helle Klang und genauso salzig wie vor Jahren.
    »WENTSCH!« Und er weiß, daß er es nie, nie, nie wieder hören wird.
    »WENTSCH.« Die Wellen werden flacher, und der Lärm ebbt ab. Jasja klettert von der Tonne herunter, rutscht aus und fällt ins Wasser. Nikita läuft zu ihr, stolpert und stürzt ebenfalls. Sie laufen aufeinander zu, unter ihren Füßen rutschende Steine, der Boden unter ihren Füßen gibt nach, keuchend laufen sie, lachend, zerschrammt. Sie fassen sich bei den Händen, da trifft eine neue Welle des Glücks sie von hinten, sie stürzen zu zweit, rufen im Chor: »WENTSCH!« und knien am Rand des gebändigten Sturms, am äußersten Rand ihres Schicksals.

24
    Wie Alja ging auch Junker fast nie aus dem Haus. Nur gerade mal bis zum Weinladen und wieder zurück. Denn draußen auf der Straße herrschte eine völlig andere Epoche. Das kleinliche, häßliche einundzwanzigste Jahrhundert, das Junker zu eng war, so daß es aus allen Nähten platzte. Der klassische Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaftäußerte sich bei Junker in einer tragischen Inkongruenz. Er fühlte sich in seiner Zeit wie ein Ozeandampfer auf der Jausa.
    Nikita hatte schon in den ersten Tagen ihrer Bekanntschaft den Eindruck gehabt, daß Junker für große Taten geboren sei, für die im gegenwärtigen Abschnitt der Geschichte kein Platz war. Als er ihm das sagte, machte sich Junker den ganzen Abend über ihn lustig und nannte ihn eine »schwärmerische Gymnasiastin«.
    Nicht, daß Nikita sehr daneben gelegen hatte, aber Junker hatte eine chronische Abneigung gegen große Worte. Er war allergisch gegen Pathos.
    Den wichtigsten Männerfeiertag des Landes, den 8. März, begrüßte Moskau mit Schneefall, der sich kurz vor der Bodenberührung in den ersten Regen verwandelte. Selbst Nikita mochte nicht aus dem Haus gehen. Darum war er völlig überrascht, als Junker bei ihm in Altufjewo vor der Tür stand.
    Junker hielt in jeder Hand eine Flasche Wein, sah blaß und dekadent aus wie das Bildnis des Dorian Gray, schien aber zu allem entschlossen.
    »Komm, du Experte für das moderne Rußland, du wirst es mir jetzt zeigen«, sagte er, eine Flasche in Richtung Fenster schwenkend, vor dem sich kahle Bäume wiegten und nach den unerreichbaren zerrissenen Wolken haschten. »Keine Widerrede. Ich habe mich heute endgültig im Wald des Lebens verirrt, und

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