Endstation Rußland
Gegend. »Du AAS! Ich wollte doch mit dir reden wie ein MENSCH!«
Die Dunkelheit reagierte nicht, ließ nur geheimnisvoll Regen auf den abgetauten Asphalt platschen und Autoreifen sehnsüchtig seufzen.
»Bist du mal in der Eremitage gewesen?« fragte Junker plötzlich.
Die Frage brachte Nikita schon wieder in Verlegenheit. Natürlich war er in der Eremitage gewesen, aber mit Jasja. Und der Gedanke an sie fiel ihm heute besonders schwer. Nikita hatte den ganzen Abend heldenhaft gegen den Wunsch angekämpft, ihre Nummer zu wählen.
Studenten hatten in der Eremitage freien Eintritt. Und erund Jasja fanden bei den Impressionisten und zwischen den Sarkophagen Zuflucht vor dem Petersburger Dauerregen, vor dem schlechten Wetter, vor dem Zwang, zum hundertsten Mal die elenden Prospekte und Uferstraßen auf und ab zu laufen. Außerdem gab es im Winterpalais eine kostenlose Toilette. Einmal hatte Jasja dort eine Bibel in finnischer Sprache liegenlassen, die sie in einer katholischen Kirche klauen wollte, wo sie der Orgel gelauscht hatten, doch wie sich herausstellte, gab es die Bibel umsonst. Obwohl das Buch für sie nun nicht mehr von Interesse war, mußten sie es mitnehmen und in der schwülen Hitze durch die »Linien« auf der Wassili-Insel schleppen, wobei sie einander mit dem Vorlesen der langen Vokalketten unterhielten.
Von der Toilette des Winterpalais kam die schlaue Jasja ohne den Wälzer zurück, doch Nikita bemerkte es und rief von weitem, zum Entzücken der frommen Besucher:
»Jasja! Du hast die Bibel vergessen!«
Jasja verzog unwillig das Gesicht und holte die Heilige Schrift, die sie später einem jungen Fotografen schenkten, der Finnisch lernte. Er hieß Wasja oder Petja. Sie hatten ihn im Michailow-Garten kennengelernt, wo er auf der Bank neben ihnen geschlafen hatte. Anschließend waren sie zusammen durch die frühmorgendliche Stadt gelaufen und hatten Straßenlaternen fotografiert, die im rosa Himmel schwammen wie Mondfahrzeuge von Außerirdischen.
Das alles fiel Nikita ein, während Junker ihm erklärte, man könne »natürlich großherzig versuchen, dort bei seinem Volk zu sein, wo dieses Volk unglücklicherweise ist , doch das heißt keineswegs, daß man deshalb genauso ungebildet und unkultiviert werden muß, und darum lohnt es sich, das wichtigste Museum des Landes einmal zu besuchen«.
Nikita versprach, unbedingt einmal in die Eremitage zugehen, und sie liefen weiter – ansonsten hätte Junker nämlich vor Empörung keinen Schritt mehr tun können.
»Wenn du alte Gemälde oder Skulpturen betrachtest, kommen dir die Gesichter sehr sonderbar vor. Solche hast du noch nie im Leben gesehen«, fuhr Junker fort, er hatte sich ein wenig beruhigt. »Und das liegt vermutlich nicht am Handwerk der Künstlers und seiner Fähigkeit zur ›Nachahmung‹, sondern daran, daß die Menschen früher tatsächlich andere Gesichter hatten. Das ist mir schon als Kind aufgefallen. Doch dann lief ich eines Tages durch die Eremitage und erkannte in einem Marmorjüngling aus der Zeit des Untergangs des Römischen Reichs einen Klassenkameraden – er sah haargenau so aus. Ich schaute genauer hin und fand noch weitere Bekannte. Und begriff plötzlich, warum mich diese Gesichter nicht überraschten – ich sah sie jeden Tag in der Metro und auf der Straße! Gesichter, denen der Verfall seinen Stempel aufgedrückt hat. Wie heißt es so schön – jetzt auch in Rußland .«
Junker trank einen großen Schluck Wein und zündete sich eine Zigarette an. Nikita drehte sich um und sah den Beschwörer der Dunkelheit und seine Olja, die sich materialisiert hatte, eng umschlungen mitten auf der Fahrbahn stehen. Die Autos fuhren um das Paar herum und gaben als Zeichen der Solidarität Hup- und Blinkzeichen.
»Ich kann das nicht ruhig mit ansehen!« rief Junker, der Verfall und Untergang meinte, nicht die gegen die Verkehrsregeln verstoßende Umarmung. »In jedem oder in fast jedem reift ein Leichnam heran. Sieh dich um! Nur ein Spinner und Idiot wie du kann in diesem Kadaverhaufen Menschen sehen. Sie hat sich ihren Humor bewahrt! Dafür ist das menschliche Antlitz für immer dahin!«
Nikita überhörte den »Idioten«, doch was die Menschenbetraf, so fühlte er sich tief gekränkt. Junker, vom Regen durchnäßt, bemerkte es nicht.
»Aber weißt du, müßiges Gejammer liegt mir nicht. Man muß handeln. Diesem Verfall etwas entgegenzusetzen – das vermag weder die Wissenschaft noch die Kunst und schon gar nicht die Politik. Nur
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