Endstation Rußland
Haus trugen, wobei sie sich gegenseitig schubsten und einander im Weg standen, zog Wanja Nikita nach hinten in den Gemüsegarten und erklärte:
»Ich weiß jetzt, was ich im Leben mal machen werde. Nach der Schule studiere ich Ökologie, ich werde die Natur retten. Erst habe ich gedacht, die Menschen, ich hab sogar mit Vater Andrej darüber gesprochen, ob man hier vielleicht ein Altersheim aufmachen könnte, stehen ja jede Menge Häuser leer. Aber dann habe ich erkannt, daß die Natur wichtiger ist. Denn wo sollen die geretteten Menschen leben, wenn der Planet untergeht? Auf dem Mars? Aber solange ich noch zur Schule gehe, schreibe ich erst mal einen Roman, um keine Zeit zu vergeuden. Eine Mahnung. Was uns droht, wenn die Menschen die Natur weiter so behandeln wie jetzt.«
Tief über ihren Köpfen flog eine Elster vorbei. Und setzte sich mit eingezogenem Schwanz auf die Stromleitung. Vater Andrej kam heraus, um zu rauchen. Er lächelte Nikita breit an und sagte:
»Es gibt nur sehr wenige schlechte Menschen auf der Welt. Die meisten haben einfach nur Angst oder genieren sich, gut zu sein.«
Die Elster krächzte empört, als wundere sie sich über diesen menschlichen Unverstand.
»Siehst du, auch die Elster gibt mir recht, wie Don Juan zu sagen pflegte«,bemerkte Vater Andrej. Und lachte lauthals, als er Nikitas verblüfften Blick sah.
Die Sonne war unbemerkt hinter dem windschiefen Dach verschwunden. Für Vater Andrej wurde es Zeit, auf den Glockenturm zu steigen und zum Abendgottesdienst zuläuten. Nikita, Grischa und Junker kletterten mit ihm hinauf, Wanja aber blieb unten, um auf Taïssija Iossifowna »aufzupassen«.
Von oben sahen sie noch ein Stückchen vom Sonnenuntergang. Alles ringsum war vergoldet. Vater Andrejs mit weißer Tünche bekleckerter Priesterrock wehte im Wind und brach die Sonnenstrahlen, so daß er aussah wie ein Fächer. Vater Andrej wickelte sich die Glockenseile um die Faust und lauschte.
»Läutet Vater Serapion schon, drüben in Wyssokoje?« fragte der Pope, zu Grischa gewandt.
»Nein, noch nicht.« Grischa lehnte an der Wand und schaute in die Ferne.
Die Felder und der feurige Punkt der untergehenden Sonne spiegelten sich in seinen Augen. Nikita sah Grischa zum ersten Mal mit einem solchen Gesicht. Wie von einem inneren Licht reingespült.
»Merkwürdig, ist doch schon Zeit …« Vater Andrej spielte unruhig mit den Seilen. »Unser Väterchen in Wyssokoje ist schon sehr alt«, erklärte er Nikita und Junker. »Wir verständigen uns in der Morgen- und Abenddämmerung mit den Glocken. So weiß ich, daß er noch lebt. Jedesmal steige ich mit Herzklopfen in den Turm hinauf, weil ich nicht weiß, ob ich sein Geläut hören werde. In Wyssokoje sind alle gestorben. Vater Serapion lebt dort ganz allein. Er hat einen Gemüsegarten und Bienen, davon ernährt er sich. Die Gottesdienste hält er trotzdem ab, es gibt zwar keine Gemeinde mehr, aber die Kirche steht ja noch … Mütterchen Rußland verschwindet, es verschwindet vor unseren Augen«, seufzte Vater Andrej, bekreuzigte sich und lächelte plötzlich. Aus der Ferne trug der Wind schwaches Glockenläuten heran.
Auch Vater Andrej schlug die Glocke. Schweres Dröhnen erfüllte nun die Welt.
Und auf einmal begriff Nikita, daß er glücklich war. Und daß er all dies – Vater Andrejs Priesterrock mit den weißen Farbklecksen, den nachdenklichen Grischa, die morschen Bretter unter seinen Füßen und die schiefen menschlichen Behausungen dort unten, wo bereits die Dämmerung hereingebrochen war – daß er all dies nie vergessen würde.
Das passiert höchst selten: Das Glück genau in dem Augenblick zu fassen, in dem es geschieht. Bis dahin war Nikita nur ein einziges Mal bewußt glücklich gewesen. Mit neunzehn Jahren mit Jasja in Piter. Aber das war ein ganz anderes Glück. Ein vor Begeisterung heiseres, wettergegerbtes Glück für zwei.
23
Das Glück waren Küsse auf der Kußbrücke. Muntere Fischlein in der müden Moika. Das Glück stahl in den Läden fades Petersburger Brot und Brodsky-Taschenbücher. Das Glück trank Kefir auf dem Rasen vor der Isaak-Kathedrale, den Kopf in den Nacken gelegt wie ein Trompeter bei den jungen Pionieren. Jenes auf ewig neunzehnjährige Glück lebt im Gedächtnis als endlose Musik.
Es sang die Marseillaise vor einer staunenden Gruppe französischer Rentner, deren Fotoapparate klackerten. Es tönte mit den Stimmen fahrender Gaukler auf der Brücke über den Gribojedow-Kanal. Dorthin gingen er und
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