Endstation Rußland
nun muß ich hinunter in die Hölle, und du wirst mein Vergil sein. Du kennst doch hier jeden Winkel.«
Nikita begriff, daß Widerspruch zwecklos war, und schnürte sich die Schuhe zu. Auf dem Treppenabsatz, die Stirn gegen die Nachbartür gelehnt, stand ein nicht mehrnüchterner Bürger, ein kümmerliches Mimosenzweiglein in der Faust. Mit der anderen Hand tastete er vergeblich nach der Klingel. Böen eines inneren Sturm schüttelten seinen Körper und hinderten seinen Finger daran, den Knopf zu treffen.
»Schon geht sie los, die Reise durch die Unterwelt! Da ist sie, meine Heimat, steht da und ist sturzbesoffen, gleich fliegt sie in den Dreck und fängt an zu grunzen«, sagte Junker heftig.
Das mißfiel Nikita.
»Sei doch nicht so boshaft! Versuch’s mal mit Güte, dann sieht alles gleich anders aus.«
»›Liebe uns, wenn wir schwarz sind, weiß liebt uns jeder‹«,erwiderte Junker gereizt. »Kenne ich, hab ich gelesen! Aber erklär mir mal, wie man so etwas lieben soll, nicht in Büchern, sondern in Wirklichkeit? Ich hab’s mein Leben lang versucht und nicht geschafft! Na los, sag schon, wie siehst du das?«
»Ich weiß nicht«, antwortete Nikita verlegen. »Ist doch Feiertag heute, da hat er den Frauen auf der Arbeit gratuliert, hat Trinksprüche ausgebracht, Geschenke verteilt und sich ein bißchen verschätzt. Aber immerhin bringt er seiner Frau Blumen mit, er hat es nicht vergessen, er liebt sie also. Diese Mimose sieht aus, als sei er mit ihr um die halbe Welt gewandert, über unüberwindliche Hindernisse hinweg …«
»Klar, die halbe Welt: Vom Flur bis zur Bierkneipe. Und die andere Hälfte – von der Kneipe bis nach Hause! Eine unermeßliche Welt!«
»Warum redest du so?«
»Weil es mir leid tut für den Staat! Und spar dir das andere Klassikerzitat! Von wegen, richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet. Ich habe keine Angst vor dem Gericht! Ichkann mich für alle meine Taten und Worte verantworten! Im Gegensatz zu dem da . Ich habe meinem Land keine Schande gemacht, ich hab nie als bewußtlose Kreatur in der Gosse gelegen!«
Der Mann spürte, daß von ihm die Rede war, und stieß einen bedrohlichen Laut aus. Er versuchte, sich Junker zuzuwenden. Doch sein Körper mochte sich nicht bewegen, er schmiegte sich immer zärtlicher an den Türrahmen.
Sie gingen schweigend die Treppe hinunter.
Zu allem Überfluß lag eine Etage tiefer ein weiterer Mieter des Hauses, nur am gerafften Rock als weibliches Wesen zu erkennen. Das Geschöpf war bei Bewußtsein und trotz seiner liegenden Position durchaus kommunikativ. Junker schüttelte sich.
»Bedecke wenigstens deine Blöße, meine Schöne!«
»Pfff, Schlaukopf! Spiel hier nicht den Gelehrten, ich sehe alles! In deinem Kopf ficken die Fliegen!« rief die Schöne angriffslustig.
»Na, du Advocatus Diaboli, was sagst du zu der ?«
»Immerhin hat sie sich ihren Humor bewahrt«, sagte Nikita, den die Fliegen im Kopf amüsierten, lächelnd.
Junker wollte etwas erwidern – seiner Miene nach zu urteilen, etwas sehr Giftiges –, überlegte es sich aber anders und lief weiter die Treppe hinunter. An die Wand hatte jemand mit schwarzem Filzstift geschrieben: »Die Revolution – das bist du!« Und daneben: »Leute, spielt Laute! Der Rest ergibt sich.«
»Originell«, bemerkte Junker mit Grabesstimme. Oben schrie eine durchdringende Frauenstimme etwas von Miliz. Ein Poltern begleitete ihre Worte.
»Seine Frau schmeißt ihn raus. Sie hat schon vorher seine Sachen in Säcke gepackt, und die wirft sie nun raus. JedenFeiertag das gleiche Spiel«, sagte Nikita und lauschte. Junker schwieg.
Im Hauseingang entkorkten sie eine Flasche Wein und traten hinaus in den Regen. In einer Pfütze unter der Straßenlaterne schwammen Fetzen gelber Blüten – hier war der heldenhafte Pilger offenbar auf besonders unüberwindliche Hindernisse gestoßen.
Nikita sah Junker zum ersten Mal aus der Flasche trinken. Dabei wirkte er verwegen und verzweifelt, wie der seiner verfluchten Leidenschaft verfallene Mitja Karamasow. Doch Nikita zog es vor, keine Fragen zu stellen. Diese Leidenschaft war eindeutig kein Mädchen mit blonden Zöpfen.
An der Haltestelle führte ein trauriger Penner, der aussah wie ein rasierter Schimpanse, einen stürmischen Dialog mit der Dunkelheit.«
»Olja, du Aas, komm zurück, ich bring dich um!« brummte der Rasierte zärtlich, schwankend vom Übermaß seiner Gefühle.
»OLJA!« erschütterte der Brunftruf eines röhrenden Mammuts die
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