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Endstation Rußland

Endstation Rußland

Titel: Endstation Rußland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natalja Kljutscharjowa
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den dritten Tag. Ich laufe hier rum und lausche. Der Musik der Revolution, wie Blok gesagt hat.«
    Die Ratte sprang hoch und versuchte, eine schmutzige Taube zu packen, die in dem Müllhaufen herumpickte.Doch sie traf sie nicht und platschte schwerfällig auf den Bauch.
    »Auf den Straßen sind massenhaft Verrückte unterwegs. Sie laufen rum und predigen, scharen das Volk um sich. So etwas habe ich noch nicht erlebt. Der eine prophezeit den nahen Weltuntergang, der nächste erzählt Lügenmärchen von angeblich auferstandenen Zarenkindern, ein anderer faselt von Außerirdischen. Der ganze trübe Bodensatz ist hochgespült worden. Wart’s ab, gleich biegt der Student Stawroginmit seinem ungewaschenen Anhang um die Ecke. Und verteilt Flugblätter der Vereinigung ›Für die Rettung der heiligen Rus‹. Von wegen Musik! Du hast die ganze Zeit nur ein Wort auf der Zunge: Verwahrlosung. Eine verwahrloste Stadt, ein verwahrlostes Volk, eine verwahrloste Zeit.«
    Nikita konnte sich nicht überwinden zu reden. Er wollte Roschtschin anlächeln, hätte statt dessen aber fast angefangen zu weinen. Er unternahm keine weiteren Versuche, das Gespräch in Gang zu halten, sondern stand nur da, betrachtete seine Schuhe und hörte Roschtschin zu.
    »Ich war in der Ukraine, als da der Pomeranzensabbat in Gang war. Dort ging es völlig anders zu. Mit Witzen und lustigen Sprüchen. Die Menschen haben gelächelt, auf dem Kreschtschatik Lagerfeuer gemacht, laut gesungen, getanzt und Karikaturen gemalt. Die Hunde hatten orange Bänder am Halsband. In der Zeltstadt gab’s jeden Tag eine Hochzeit. Und bei uns – so öde, daß man sich glatt aufhängen möchte. Aber die Ukrainer sind ja sowieso lustiger als die Russen. Liegt das vielleicht am Klima? Schon allein ihre Mystik, die hat doch was Lebendiges, Märchenhaftes, denk zum Beispiel an die Geschichten mit dem roten Wams oder dem Teufel im Sack. Und bei uns?! Nichts als Spukgestaltenund wandelnde Hühnerleichen. Mit einem Wort – Verwahrlosung!«
    »Komm, wir gehen hin, ja?« sagte Nikita plötzlich und zog Roschtschin zurück auf den Newski. Roschtschins Gesicht verdüsterte sich erneut.
    Auf der Kreuzung standen inzwischen deutlich mehr alte Menschen. Sie schwiegen nun nicht mehr.
    »Schon vorgestern, als wir das erste Mal auf die Straße gegangen sind, haben sie mich bedroht. Ich bin auf dem Weg nach Hause, und sie fahren mir im Auto hinterher und beschimpfen mich. Du bist die Anführerin, sagen sie, der FSB hat dich schon ermittelt!« erzählte eine kräftige ältere Frau, die Arme in die Hüften gestemmt. »Und gestern komme ich von hier, da sind sie wieder da, diesmal gleich mit zwei Autos. Springen raus, an die sechs Mann. Gegen eine alte Frau! Drehen mir die Hände auf den Rücken, haben wir dich erwischt, sagen sie, du Aas! Und das zu mir! Ich bin über sechzig! Sie haben mich die Treppe rauf ins Revier geschleift und verprügelt. Mit Gummiknüppeln. Immer auf die Narben, von den Operationen. Noch im Sterben werde ich sie vor mir sehen, diese wiehernden Faschistenfressen!«
    »Welches Revier? Haben Sie es sich gemerkt?« erkundigte sich Roschtschin mürrisch.
    »Was gibt’s da groß zu merken? Unsers, das neunundsiebzigste, in der Sadowaja.«
    »Ich jag sie in die Luft!« sagte Roschtschin ernst und düster und schrieb die Nummer des Reviers in sein Notizbuch. Die Frau wich erschrocken zurück. »Wenn ich keine Tochter hätte, wäre ich schon längst zu den Terroristen gegangen. Hier haben viele Leute eine Kugel verdient. Aber ich vergesse nichts, ich führe eine schwarze Liste. Wenn Marja Jewgenjewna groß ist, entkommt mir niemand! Niemand! Die fühlen sich zu Unrecht vor jeder Strafe sicher.«
    Dergleichen hatte Nikita noch nie von Roschtschin gehört. Die Frau schüttelte betrübt den Kopf, die Faust an der Wange.
    »Gott ist ihr Richter, lade dir keine Sünde auf die Seele!«
    »Was soll ich denn tun?! Ruhig zusehen? Mir anhören, wie sechs Riesenkerle Sie verprügelt haben?! Das kann ich nicht! Mit Worten hält man die nicht auf, man kann sie nur töten!«
    »Zieh erst mal deine Tochter groß, bevor du fremde alte Frauen rächst! So was Blutrünstiges!« Roschtschins Schutzbefohlene hob plötzlich unfreundlich die Stimme. »Töten ist leicht! Das kann jeder! Sieh du erst mal zu, daß du einen guten Menschen erziehst, ihn auf eigene Füße stellst, ihm ein Gewissen mitgibst! Damit du sicher sein kannst, daß dein Kind nicht alten Frauen mit Gummiknüppeln die Rippen

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