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Endstation Rußland

Endstation Rußland

Titel: Endstation Rußland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natalja Kljutscharjowa
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tausendköpfigen Menge, die wie eine Beschwörung im Chor immer wieder »Schande!« rief, drehten sie sich um und liefen in Richtung Moskowski-Prospekt. Ohne sich abzusprechen, standen Nikita und Roschtschin auf und liefen hinterher.
    Auf dem Heumarkt wurde einem alten Mann im hellen Mantel schlecht. Er fächerte sich mit der gespreizten Hand Luft zu und schnappte mit offenem Mund hilflos nach Luft.
    »Was ist? Was ist?« Nikita rüttelte ihn sanft. Der Mann zeigte mit dem Finger auf seine Brust. »Das Herz?« Er nickte und wedelte weiter mit der Hand. Nikita rannte in eine Apotheke.
    »Schnell, beeil dich, sonst sind sie weg!« trieb ihn der Alte an und entriß ihm die Packung Validol. »Ohne mich, das darf nicht sein!«
    »Vielleicht bleiben Sie doch lieber zu Hause?« schlug Roschtschin vor.
    Der Alte bedachte ihn mit einem flammenden Blick. Und zog die Brauen zusammen.
    Nikita lief noch einmal in die Apotheke und kaufte für alles Geld, das er bei sich hatte, Herz- und Bluthochdrucktabletten. Er wußte, daß es zu spät war, sie zum Umkehren zu bewegen.
    Als er zurückkam, redete Roschtschin auf die Fernsehleute ein, die inzwischen herbeigeeilt waren, und der alte Mann fächelte sich keine Luft mehr zu, sondern wischte sich mit einem karierten Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Ein kurzbeiniger Kameramann mit rotem Basecap kam angerannt, hockte sich vor ihn und filmte.
    »Ich bin Veteran des Großen Vaterländischen Krieges. Drei Verwundungen. Ein Ruhmesorden, für den Kursker Bogen. Aus drei brennenden Panzern bin ich gerade noch rausgekommen, wie viele fremde ich abgeschossen habe, weiß ich nicht mehr«, erzählte der Alte und sah konzentriert in die Kamera. »Ich finde, ihr, die ihr heute lebt, verdankt euer sattes, friedliches Leben zum Teil auch mir und auch meinen Kameraden, die gefallen sind oder überlebt haben.Ich möchte euch an die Achtung vor den Älteren erinnern. Darum gehe ich nach Moskau, zum Kreml, zum Präsidenten, den das ganze Volk gewählt hat. Um ihm persönlich zu sagen, daß man mit den Veteranen nicht so umgehen darf. Matwej Iwanowitsch Noskow heiße ich.«
    Das Fernsehteam stieg in einen Wagen, verfrachtete Matwej Iwanowitsch auf den Beifahrersitz und fuhr los, die anderen Bittsteller einholen. Roschtschin und Nikita nahmen die Straßenbahn.
    »Komisch, alte Männer haben immer karierte Taschentücher«, sagte Roschtschin, und dann schwiegen sie für den Rest der Fahrt.
    Am Abend erreichten sie bereits die Landstraße. Die letzte Hoffnung, daß die alten Leute in der Stadt bleiben würden, verflüchtigte sich.
    Es waren neun: sieben Frauen und zwei Männer. Ihre blankgeputzten Medaillen blitzten in den Strahlen der untergehenden Sonne. Es wurde kalt. Zusammen mit den Alten ging auch der Gardefähnrich Gennadi Uminski, dreißig Jahre alt, dem Tod entgegen.
    »Ein Samurai begeht vor den Augen seines Beleidigers Harakiri, und genau das will ich auch tun. So Gott will und ich bis Moskau komme. Der Präsident wird es nicht wagen, ihnen eine Audienz zu verweigern, dazu hat er zu viel Angst vor einem Skandal, na, und ich werde mit ihnen durchrutschen, wir sind ja zusammen gekommen; er wird allen die Hand drücken und sein höhnisches Grinsen aufsetzen, und dann erschieße ich mich. Soll er ruhig zusehen!«
    Gennadi griff im Gehen in seine Brusttasche und zeigte Roschtschin und Nikita Papiere, aus denen hervorging, daß er zu neunzig Prozent arbeitsunfähig war, aufgrund der in Tschetschenien erlittenen Verwundungen.
    »Mit so einer Bescheinigung kannst du höchstens in einer Behindertenwerkstatt Handschuhe stricken«, sagte der Fähnrich, der auf dem rechten Bein hinkte. »Laut Gesetz muß der Staat, der mich zum Invaliden gemacht hat, dafür aufkommen. Aber das tut er nicht. Ich bin drei Jahre lang von Gericht zu Gericht gezogen. Am Ende hieß es, ich sei schließlich bei Kriegshandlungen verwundet worden, die Verantwortung dafür trage also nicht mein Land, sondern das, gegen das wir gekämpft haben. Das heißt, der Richter schickte mich ausdrücklich zu Maschadow,wegen einer Wiedergutmachung. Und buchstäblich am nächsten Tag erklärte Maschadow auf Al Dschasira oder auf Kawkas-Zentr , er sei bereit, mir monatlich die Summe zu zahlen, die ich vom Verteidigungsministerium verlange. Wenn Rußland nicht in der Lage sei, für seine Invaliden zu sorgen. So hat er das gemeint. Sie verstehen das vielleicht nicht, aber ich bin Soldat, ich habe meine eigenen Vorstellungen von Ehre, und nach so

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