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Endstation Rußland

Endstation Rußland

Titel: Endstation Rußland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natalja Kljutscharjowa
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durch. Das ist ein neues Gesetz von der Regierung!«
    »Nein, wer uns hier nicht durchläßt, das bist du!« antwortete der Alte mit einer Stimme, die nichts Gutes verhieß.
    »Macht doch, was ihr wollt!« schrie die Verteidigerin des Drehkreuzes wütend und ging zum Weinen in ihr Glashäuschen.
    Durch den nun offenen Eingang strömten triumphierend die Privilegierten von gestern. Der Stau löste sich allmählich auf. Bis sich plötzlich ein breitschultriger Milizionär den Rentnern in den Weg stellte. Die Schlacht lebte wieder auf.
    »Sag mal, Babuschka, für wen hast du bei der Wahl dein Kreuzchen gemacht? Für Putin?« fragte er scheinheilig eine zusammengekrümmte Greisin.
    »Aber ja, für ihn, mein Guter! Für wen denn sonst?« antwortete die Alte erfreut.
    »Dann geh zur Kasse und kauf dir eine Fahrkarte«, blaffte der Milizionär mit der ganzen Kraft seiner Gesetzeshüter-Lungen. »Und das nächste Mal überleg dir, für wen du stimmst. Falls du das noch erlebst.«
    »He, guck dir das an.« Ein junger Mann mit Bauch- und Glatzenansatz stieß Nikita an. »Der agitiert gegen die eigenen Leute! Den Milizionären haben sie nämlich auch die Vergünstigungen gestrichen, deshalb ist er so wütend! Diese Idioten, schaufeln sich ihr eigenes Grab! Wenn die Miliz hungert und noch schlimmer, die Armee, das ist das Ende. Wenn’s hart auf hart kommt, werden sie sich abwenden von dem Staat, der sie so schlecht ernährt, sie wechseln die Seiten und schließen sich den Aufrührern an. Kein Eid wird sie zurückhalten, wenn auf der anderen Seite süße Köder locken! Und das geht bald los. Heute oder morgen werden sie die Fernstraßen sperren. Das sage ich Ihnen alspolitischer Beobachter der auflagenstärksten russischen Zeitung!«
    Die Intuition täuschte den Journalisten nicht. Die Straßen wurden noch am selben Tag gesperrt. Das erfuhr Nikita, als er schon im Zug saß, aus dem Radio. Niemand im gesamten Waggon tat in dieser Nacht ein Auge zu, ob jung oder alt, alle diskutierten ohne Punkt und Komma über Politik. Die Reise von Moskau nach Petersburg wurde zu einer stürmischen Kundgebung auf Rädern.
    »Nieder mit dem Surabismus!«rief ein Männlein in ausgeleiertem T-Shirt und hämmerte mit dem punzierten Teeglashalter auf den Tisch ein.
    »Richtig!« pflichtete seine Nachbarin ihm bei, wobei sie ihr Huhn in Alufolie vor dem Teeglashalter in Sicherheit brachte. »Diesen Surabow sollte man auf dem Roten Platz vierteilen! Damit anderen die Lust vergeht, den Bettlern die Kopeken aus der Mütze zu nehmen!«
    »Mein Gott, wie sollen wir bloß weiterleben?« jammerte, aus dem allgemeinen Ton herausfallend, eine Babuschka mit einem bis dicht über die Brauen gezogenen Kopftuch. »Am besten, man stirbt bald!«
    Nikita fühlte sich plötzlich schuldig.

26
    Die Wiege der russischen Revolution empfing ihn um acht Uhr morgens mit einem lahmgelegten Newski und einer paralysierten Sadowaja. Tausende alte Leute standen im herbstlichen Nieselregen auf der Fahrbahn. Straßenbahnen klingelten nervös. Die alten Leute standen da und schwiegen.
    Sie schienen die ganze Nacht hier verbracht zu haben. Sie schienen sich nie wieder von der Stelle rühren, nie wieder nach Hause gehen, nie wieder in eine in Richtung Ochta rumpelnde Straßenbahn steigen, nie wieder frisches Brot in der Souterrain-Bäckerei in der Kasanskaja-Straße kaufen zu wollen.
    Als hätten sie bereits ihren Platz in der Ewigkeit eingenommen, unter dem ewigen Himmel von Piter, wie die Scharen grüner Engel auf den Dächern der unbewohnten Paläste, wie die sonderbaren steinernen Gesichter an den Hausfassaden auf der Wassili-Insel, wie die Löwen mit den abgebrochenen Nasen, die Tore bewachten, in die nie ein Mensch seinen Fuß setzte.
    In Nikitas Inneren zog sich etwas zusammen, eine tödliche Spiralfeder. Die sich nie wieder entspannen sollte. In der Menge traf er auf den mürrischen Roschtschin. Wortlos drückten sie einander die Hand und bahnten sich einen Weg durch die erstarrten Blicke.
    Sie traten in einen Torbogen.
    Direkt vor ihren Füßen rannte eine fette Ratte vorbei und peitschte mit ihrem Schwanz aggressiv den schwindsüchtigen Petersburger Staub. Nikita schüttelte sich. Auf dem Hof raschelte ein Müllhaufen, der bis unters Fensterbrett des ersten Stocks reichte. Vom Himmel fiel eine qualmende Zigarettenkippe.
    »Das ist die Revolution, auf die wir so sehr gewartet haben«, sagte Roschtschin tonlos und zertrat die vom Himmel gefallene Kippe. »Das dauert nun schon

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