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Endstation Rußland

Endstation Rußland

Titel: Endstation Rußland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natalja Kljutscharjowa
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Waisenkind, ich hab sie nur schlafend gesehen, hatte nicht mal genug Zeit, sie richtig zu lieben. Tja, und am Ende hat sie nie Glück gehabt. Alle Männer haben sie verlassen, und sie stand mit den Kindern allein da. Drei Enkel sind mir von ihr geblieben. Ach, wenn ich gewußt hätte, daß es so endet, wer weiß, vielleicht wäre dann auch ihr Leben anders verlaufen.«
    Die alte Frau seufzte und wischte sich die Augen.
    »Sie empfinden also den Verrat durch den Staat als etwas zutiefst Persönliches, weil …«, setzte Roschtschin zu einem Resümee an, doch Nikita stieß ihn in die Seite, und Roschtschin verstummte.
    Mit versteinertem Blick und gramgebeugt redete die alte Frau weiter, nun an niemanden mehr gerichtet, wie mit sich selbst.
    »Gekämpft hat sie, meine Olga, mit ihrem Leben hat sie gekämpft, aber ihre Kraft, die war von Kindheit an gebrochen, ein halbes Jahr vor der Blockade ist sie geboren. Wie in einem Nebel hat sie gelebt, als hätte sie gar nicht aufwachen können. Sie ist arbeiten gegangen, wie ich, ins selbe Werk. 1996 wurde dort plötzlich kein Lohn mehr ausgezahlt, ein halbes Jahr haben wir kein Bargeld gesehen. Ich ging mit den Kindern, ich war damals schon in Rente, vor dem Gostiny DworBücher verkaufen. Meistens bekamen wir kein Geld dafür, sondern Nudeln oder Buchweizen. Mein Mann hatte eine große Bibliothek zusammengetragen. Die Blockade hat sie überlebt, so sehr Olga und ich damals auch froren, die Bücher haben wir nicht verbrannt. Aber nun mußten wir sie verkaufen. Ja, solche Zeiten waren das, schlimmer als die Blockade. Damals war der Feind klar, heute dagegen gibt esgar keinen, du weißt nicht mal, wer dich kaputtmacht, von wo er angreift … Eines Tages kommen wir zurück, ich und die Enkel, da hängt meine Olga in der Küche, sie hat es nicht mehr ertragen. ›Ich kann ihnen nicht in die hungrigen Augen sehen‹, stand auf einem Zettel. Alle Zeitungen schrieben anschließend darüber, es gab großes Aufsehen, und sofort war Geld für den Lohn da. Auch alles, was sie Olga für ein halbes Jahr schuldeten, bekamen wir, sogar die Beerdigung haben sie bezahlt. Ich war wie von Sinnen, bin über den Hof gelaufen, hab gelacht, das verfluchte Geld in der Hand, und geschrien: ›Schiferson (das ist der Werkdirektor) hat mir Geld gegeben! Davon kauf ich mir jetzt eine neue Tochter!‹ Die Nachbarn mußten mich mit Gewalt beruhigen …«
    »Verzeihen Sie uns«, flüsterte Nikita, dem wieder einmal der Boden unter den Füßen wegrutschte.
    »Was hast denn du damit zu tun, Junge?« Seine Bitte hatte die alte Frau aus ihrem Kummer gerissen. » Die müßten doch um Verzeihung bitten!«
    Roschtschin, dem Ungutes schwante, packte Nikita am Arm und zerrte ihn aus der Menge. Nikita setzte auf watteweichen Beinen konzentriert einen Fuß vor den anderen, vergaß aber bald, wie man das machte, kam durcheinander und fiel auf die Knie.
    »Jasja«, dachte er noch, und der Newski stand plötzlich senkrecht, und der Himmel legte sich schräg und floß in sein linkes Auge.
    Unter einer Reklamesäule kam er zu sich, als er immer wieder das Wort »Schande!« hörte. Neben ihm auf dem Asphalt saß Roschtschin mit finsterem Gesicht.
    »Ein Bote vom Gouverneur war hier«, erklärte er Nikita. »Der Gouverneur hat sich die Petition angesehen, die sieihm geschickt haben. Er bezeichnet die Forderungen als unbegründet, das Gesetz als richtig und die Alten als Aufrührer. Das gibt einen Blutsonntag! Bleib sitzen, ich geh mich mal umhören, was das Volk sagt.«
    Er kehrte mit noch düstererer Miene zurück.
    »Sie wollen zum Präsidenten. Nach Moskau. Zu Fuß. Nicht zu fassen.«
    Nikita versuchte aufzustehen.
    »Wo willst du hin? Bleib sitzen!« Roschtschin packte ihn an der Jacke, und Nikita knickten die Beine weg.
    »Wir müssen mit ihnen gehen!« Er sah Roschtschin flehend an und versuchte erneut aufzustehen.
    »Du erinnerst mich an einen Selbstmörder, dem jedes Mal der Strick reißt, und trotzdem steckt er den Kopf immer wieder in die Schlinge!« sagte Roschtschin ärgerlich und zog Nikita wieder hinunter. Nikita fiel hin und stieß sich schmerzhaft das Steißbein.

27
    Da sah er sie. Sie sammelten sich ein paar Meter von der Reklamesäule entfernt. Ihre Gesichter ließen keinen Zweifel: Ja, diese Menschen wollten zu Fuß nach Moskau. Sie schwiegen. Nikita entdeckte unter ihnen die Frau, die auf dem Milizrevier geschlagen worden war, und die Frau, deren Tochter sich aufgehängt hatte.
    Unbeachtet von der

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