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Endstation Rußland

Endstation Rußland

Titel: Endstation Rußland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natalja Kljutscharjowa
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bricht! Oder daß es ihnen wenigstens in der Straßenbahn einen Platz anbietet.«
    »Habt Geduld! Das, was jetzt geschieht, ist die Agonie. Die Föderation liegt im Sterben! Soll sie doch, es ist längst Zeit! Das Imperium steht auf tönernen Füßen! Ein lebensunfähiges Ungeheuer!« rief plötzlich ein rothaariger Dickwanst links von ihnen so laut, daß das unangenehme Gespräch von selbst erstarb. Sie wandten sich erleichtert voneinander ab und hörten dem Rothaarigen zu. »In den Orkus mit der Föderation! Unsere Heimat ist der russische Norden, dort ist Leben! Dort ist Hoffnung! Dort ist die Quelle des historischen Schöpfertums! Dort ist unser fernes Reich, unser utopischer Staat, in der Freiheit von Nowgorod, in den Holzkirchen, in den Märchen der Küste!« verkündete der Prophet der nordrussischen Utopie, einen kleinen Kalender mit einem Bild des Klosters Solowki an die Brust gepreßt wie eine Ikone. Die Menschen hörten ihm zu und waren gerührt.
    Auf der anderen Seite der Menge hielt ein schwarzer ausländischer Wagen mit Blaulicht. Ein Mann mit dem Erkennungsmerkmal des Abgeordneten im Gesicht stieg behäbig aus und warf mit Geldscheinen um sich. Die Menge johlte und wogte in seine Richtung. Plötzlich stand der rothaarige Prophet mit seinem Kalender allein da. Er schaute sich verwirrt um und rief:
    »Wo wollt ihr hin? Russen! Slawen! Wo ist euer nordrussischer Stolz! Bleibt stehen!«
    Doch niemand hörte ihm mehr zu.
    Ein hoch aufgeschossener Junge stürzte sich mit dem Schrei »Schande!« auf den Abgeordneten. Der Ankläger entriß ihm über den Köpfen der gar nicht stolzen Slawen, die die Hände nach dem herabsegelnden Geld ausstreckten, fünfhundert Rubel und wollte den Schein demonstrativ zerreißen. Ein Leibwächter, ein in ein Jackett gezwängter Transformator, warf den Jungen mit einer unauffälligen Bewegung auf den Asphalt, drückte ihn mit dem Knie leicht zu Boden. Ein zweiter Bodyguard, der dem ersten aufs Haar glich, beugte sich angeekelt über den besiegten Feind, nahm ihm den zerknüllten Geldschein ab, glättete ihn und steckte ihn sich in die Brusttasche. Der Abgeordnete verzog verächtlich den Mund, wandte dem Geschehen seinen breiten Pferdearsch zu und warf nun mit Tausendrubelscheinen. Die Leibwächter und das gierige Volk zogen dem Geldregen hinterher.
    Nikita half dem Jungen aufstehen.
    »Das tut so weh! Das tut so weh!« wiederholte der Junge, klopfte sich ab und biß sich auf die Lippen.
    »Haben sie dir sehr zugesetzt?« fragte Roschtschin.
    »Davon red ich nicht!« wehrte der Junge ärgerlich ab, sah Nikita in die Augen und wiederholte: »Das tut so weh!«
    Nikita nickte schweigend.
    »Ich scheiß drauf, daß das peinlich ist! Ich scheiß auf die Menschenwürde! Wenn du nichts zu essen hat, denkst du nicht mehr daran!« stritt sich ein Mann von stark semitischem Äußeren mit irgendwem. »Ich hab drei Scheine aufgefangen, bevor das Gedränge losging. Das ist ein Vielfaches meiner Rente! Wer soll sich jetzt dafür schämen? Ich? Oder die, die mich soweit gebracht haben, daß ich mich hier demütigen lasse?«
    »Es ist traurig, furchtbar traurig!« stimmte ihm eine Babuschka mit schwarzem Kopftuch zu. »Woran sind wir denn schuld? Wir haben den Krieg gewonnen, das Land aus Ruinen wieder aufgebaut, wir haben Kinder groß gezogen, das ganze Leben für die Zukunft geschuftet. Und so sieht sie nun aus, die Zukunft! Auf den Müll werfen sie uns, keiner braucht uns mehr – na los, gib den Löffel ab, wenn du nicht mehr arbeiten kannst! Das ist doch nicht menschlich, wie sie uns behandeln, sie benehmen sich wie Tiere! Nur Tiere beißen die Schwachen und Alten tot! Aber wir sind Menschen!«
    »Aber Ihre eigenen Kinder, die haben Sie doch nicht im Stich gelassen!« mischte Roschtschin sich wieder ein. »Das ist viel wichtiger als der Staat!«
    »Für euch vielleicht«, erwiderte die schwarze Babuschka geduldig. »Ihr lebt nur für euch selber, alles andere existiert für euch gar nicht. Wir haben anders gelebt. Ich hab bis spätabends gearbeitet, meine Tochter saß allein zu Hause, der Mann war an der Front geblieben, gefallen. Du kommst nach Hause, fällst um vor Müdigkeit, und am nächsten Morgen springst du wieder mit der Werksirene auf und tobst los. Ich dumme Gans dachte, ich müßte für alle sowjetischen Kinder sorgen, alle ernähren, wärmen und kleiden, deshalbhab ich mich so abgerackert. Die lichte Zukunft hab ich aufgebaut, aber meine eigene Tochter ist aufgewachsen wie ein

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