Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Endstation Rußland

Endstation Rußland

Titel: Endstation Rußland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natalja Kljutscharjowa
Vom Netzwerk:
etwas kann ich einfach nicht weiterleben, ich habe schließlich einen Eid geleistet, und Maschadow ist mein Feind!«
    »Und wie hat das Verteidigungsministerium reagiert?« fragte Roschtschin.
    Der Fähnrich stieß einen derben Fluch aus und spuckte in den Staub.
    »Die haben jeden Kommentar verweigert. Das heißt, das ist bei uns ganz normal! Daß die Feinde unseren Soldaten die Rente bezahlen! Das beweist doch wohl, daß sie auf uns scheißen. Darauf, daß wir nach ihren Kriegen im Fußgängertunnel auf der Gitarre klimpern und uns in der Metro das Geld für die Prothese zusammenbetteln! Sie sollten sich wenigstens für sich selber schämen!«
    Der Fähnrich Gennadi zog gierig an seiner Zigarette undhumpelte eine Weile schweigend weiter. Die Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges liefen ein Stück entfernt. Es wurde dunkel.
    »Ich wußte ja gar nichts davon. Ich hab zu Hause keinen Fernseher. Doch dann riefen die Journalisten an. So und so, das Verteidigungsministerium verweigert jeden Kommentar, vielleicht willst du dich ja dazu äußern? Scheiße, hab ich gesagt! Ich werde mich äußern! Aber paßt auf, daß sie nicht anschließend euren Fernsehsender samt euren Zeitungen verbieten! Ich hab sie alle für fünf Uhr in den Fußgängertunnel auf der Sadowaja bestellt, mir von meinem Nachbarn ein Akkordeon geborgt, meine Auszeichnungen angesteckt und bin hin. Eine Mütze auf den Boden gelegt, und los ging’s: ›In Afghanistan, verdammt, in der schwarzen Tulpe …‹ Die Paparazzi rücken an. Ich bearbeite wie wild das Akkordeon. So, sag ich, werde ich mir meinen Lebensunterhalt verdienen, weil mein Staat mich meinem Schicksal überläßt. Meine eigene Landsleute werde ich anbetteln, Scheiße werde ich fressen vor Hunger, wie ein räudiger Köter, aber von meinen Feinden nehme ich keine Kopeke. Maschadow kann sich mit diesen Tausendern seinen schwarzen Arsch abwischen! Oder noch besser – sie unserem Verteidigungsminister schicken, der ist ja so arm! Das mit dem Minister haben alle Sender rausgeschnitten – sie hatten Schiß!«
    Die Rentner beschlossen, in einer Bushaltestelle zu übernachten. Sie setzten sich nebeneinander auf die Bank und senkten die Köpfe. Nikita ging ins nächste Dorf, etwas zu essen besorgen. Doch man gab ihm nichts – niemand glaubte an die Alten, die zu Fuß von Petersburg nach Moskau unterwegs waren.
    »Ach du, Soldat! Keinen Proviant ergattert!« sagteGennadi und schlug Nikita mit der bleischweren Hand auf die Schulter. »Hast es wohl mit bitte-danke, Verzeihung-Entschuldigung versucht, was? Nee, mit denen darf man keine Umstände machen! Wenn du nicht hart durchgreifst, ziehen sie dich aus bis aufs Hemd, ohne mit der Wimper zu zucken, so ist das Volk heute. Ohne Erbarmen.«
    »Wie die Zeit, so die Menschen«, meldete sich Matwej Iwanowitsch.
    »Sag ich doch, Vater. Hart wie Stahlbeton, das sind wir alle. Und das Herz ist ein Plasmabildschirm. Ich geh mal selber los.« Der Fähnrich legte die Hand grüßend an den Mützenschirm und humpelte in die Dunkelheit, dann drehte er sich noch einmal um und wies mit einem Kopfnicken auf Nikita: »Das Kerlchen da ist viel zu weich, als würde er nicht heute leben!« Und verschwand.
    Gennadi kam mit sieben Weißbroten und einer Kanne Milch zurück. Vorm Schlafengehen verabschiedeten sich die Alten voneinander – man konnte ja nie wissen.
    »Wie vor einem Gefecht, das haben wir auch immer so gemacht«, sagte der Fähnrich und streckte sich hinter der Bushaltestelle im Gras aus. »Du kippst deine hundert Gramm runter, einen prophylaktischer Gedenkschluck auf dich selber und auf deine Kameraden, und dann vorwärts, gegen die Tschechos.«
    »Wir haben ja unser Land gegen die Eindringlinge verteidigt, aber ihr?« kam vom Bushäuschen die Stimme von Matwej Iwanowitsch.
    Der Fähnrich Gennadi zuckte zusammen und sagte dumpf ins Dunkel:
    »Wir, Vater, sind einem Befehl gefolgt. Ein Soldat ist nicht zum Diskutieren da, das weißt du selber. Schlaf jetzt mit Gott, wir beide müssen uns nicht streiten, wir gehen denselben Weg zum Sterben.«

28
    Im Morgengrauen rückten sie wieder aus , wie der alte Frontsoldat Matwej Iwanowitsch Noskow es ausdrückte. Die eisige Nacht hatte die unsichtbare Grenze zwischen Alten und Jungen getilgt. Nun liefen sie alle zusammen. Nikita verspürte eine verwegene Entschlossenheit in sich, er war nicht mehr schüchtern und genierte sich nicht mehr für sich, seine Jugend und seine Gesundheit. Etwas war mit ihm geschehen,

Weitere Kostenlose Bücher