Endstation Venedig
reichte ihr die Hand.
Er beobachtete ihr Gesicht und las dessen Ausdruck wie einen Comic mit schnell wechselnden Bildern. Zuerst kam das Erkennen und der instinktive Abscheu vor dem, was er repräsentierte, dann die Erinnerung daran, wie gut er zu ihrem Sohn gewesen war, ihrem Stern, ihrer Sonne, und dann sah er, wie sich ihre Züge glätteten und ihr Mund sich zu einem Lächeln aufrichtiger Freude verzog.
Ah, Dottore, Sie kommen mich mal wieder besuchen. Wie nett.
Aber Sie hätten anrufen sollen, dann hätte ich gründlich saubergemacht und Ihnen etwas Leckeres gebacken.
Er hatte
anrufen ,
saubergemacht
und
gebacken
verstanden und sich das Übrige
daraus zusammengereimt.
Signora, eine Tasse von Ihrem hervorragenden Kaffee wäre schon mehr, als ich zu hoffen wagte.
Kommen Sie, kommen Sie herein , sagte sie, schob ihre Hand unter seinen Arm und zog ihn mit. Dann trat sie rückwärts durch die offene Tür ihrer Wohnung, wobei sie seinen Arm festhielt, als hätte sie Angst, daß er ihr weglaufen könnte.
Als sie drinnen standen, drückte sie mit der einen Hand die Tür zu und zog ihn mit der anderen weiter. Die Wohnung war so klein, daß wahrhaftig niemand darin verlorengehen konnte, und doch behielt sie die Hand an seinem Arm und geleitete ihn so in das kleine Wohnzimmer.
Nehmen Sie diesen Sessel hier, Dottore , sagte sie und führte ihn zu einem prallen Sessel, der mit glänzendem, oran-gefarbenem Stoff bezogen war. Jetzt ließ sie ihn endlich los. Als er zögerte, drängte sie:
Setzen Sie sich. Ich mache uns einen Kaffee.
Er tat wie ihm befohlen und versank in dem Sessel, bis seine Knie auf gleicher Höhe mit seinem Kinn waren. Sie knipste die Lampe neben dem Sessel an; die Ruffolos lebten in dem ewigen Zwielicht derer, die zu ebener Erde wohnen, aber selbst eine Lampe um die Mittagszeit konnte nichts gegen die Muffigkeit ausrichten.
Bleiben Sie schön sitzen , kommandierte sie und ging zur anderen Seite des Zimmers, wo sie einen geblümten Vorhang beiseite schob, hinter dem sich eine Spüle und ein Herd verbargen. Von seinem Platz aus sah Brunetti, daß die Wasserhähne glänzten und der Herd in seinem Weiß fast strahlte. Sie öffnete ein Schränkchen und holte das zylindrische Espressokännchen heraus, das er immer mit dem Süden in Verbindung brachte, ohne zu wissen warum. Sie schraubte es auseinander, spülte es sorgfältig aus, spülte nach, und füllte sie mit Wasser. Dann löffelte sie mit geübten, rhythmischen Bewegungen Kaffeemehl aus einem Vorratsglas hinein, entzündete das Gas und stellte die Kanne auf die Flamme.
In dem Zimmer hatte sich seit seinem letzten Besuch nichts ver-
ändert. Vor der Gipsstatue der Madonna standen gelbe Plastikblu-men; Spitzendeckchen in ovaler, rechteckiger und runder Form lagen auf jeder Fläche; darauf standen reihenweise Familienfotos, und auf allen war Peppino zu sehen: Peppino als kleiner Seemann, Peppino im strahlenden Weiß seiner ersten Kommunion, Peppino auf dem Rücken eines Esels, grinsend trotz seiner Angst. Auf allen Bildern waren die übergroßen Ohren des Kindes sichtbar, mit denen er fast wie eine Karikatur wirkte. In einer Ecke befand sich so etwas Ähnliches wie ein Altar für ihren verstorbenen Mann: ihr Hochzeitsbild, auf dem Brunetti ihre längst verblaßte Schönheit sah; in die Ecke gelehnt der Spazierstock ihres Mannes, dessen elfenbeinerner Knauf selbst in diesem trüben Licht glänzte; seine lupara, die tödlichen kurzen Läufe mehr als zehn Jahre nach seinem Tod noch poliert und geölt, als hätte selbst der Tod ihn nicht von der Notwendig-keit befreit, dem sizilianischen Männerklischee nachzukommen, das ihm gebot, jedem Angriff auf seine Ehre oder seine Familie mit dem Gewehr entgegenzutreten.
Brunetti sah weiter zu, wie sie, scheinbar ohne ihn zu beachten, zuerst ein Tablett und Teller herunterholte, dann aus einem anderen Schränkchen eine Blechdose, deren Deckel sie mit einem Messer ab-hob. Daraus schichtete sie Massen von Gebäck auf den einen Teller.
Aus einer weiteren Dose lud sie bunt umwickelte Pralinen auf einen anderen Teller. Der Kaffee kochte auf, und sie griff rasch zu und drehte das Kännchen mit einer flinken Bewegung um, trug dann das Tablett zu dem großen Tisch, der fast eine ganze Seite des Zimmers einnahm. Wie ein Kartenspieler verteilte sie Teller und Unterteller, Löffel und Tassen, die sie vorsichtig auf die Tischdecke aus Plastik setzte. Dann holte sie den Kaffee. Als alles fertig war, wandte sie sich
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