Endstation Wirklichkeit
Gesellschaft in seinen Augen vorschreiben will.“
Frank Carda seufzte laut und schüttelte verständnislos den Kopf. „Nein, Ben! Deine Beschreibung ist so ziemlich am weitesten von dem entfernt, was die Figur in Wirklichkeit ist.“
Bens Tonfall wurde augenblicklich aggressiv. „Dann erkläre du mir doch bitte, wie du die Rolle siehst!“ Er schrie förmlich.
„Das kann ich gerne tun: Stuart Kenneth ist ein hochsensibler Mann, der eine total miserable Kindheit hatte und nun versucht, sich mit kriminellen Handlungen den Respekt zu verschaffen, den ihm seine Familie verwehrt hat. Er ist im festen Glauben, das Richtige zu tun. Emotionale Bindungen zwischen Menschen sind für ihn eine altertümliche Idee aus Liebesromanen. Deswegen wehrt er sich energisch dagegen, jemals Gefühle für eine andere Person zuzulassen. Und dann verliebt er sich dennoch in seine Verteidigerin. Das alles ist für ihn so unvereinbar, dass sein Seelenheil völlig außer Kontrolle gerät. Er fühlt sich wie ein Baum, den man abgeholzt hat und für den es scheinbar keinen Platz mehr auf dieser Welt gibt.“ Der Regisseur machte eine lange Pause und ging ein paar Schritte auf und ab.
„Und was passt dir nicht an meiner Darstellung der Rolle? Wir haben jetzt schon zwanzigmal diese Szene gedreht. Jedes Mal hast du etwas zu meckern!“
„Was mir daran nicht passt? Ganz einfach: Du spielst einen Elefanten im Porzellanladen, nicht einen sensiblen, völlig aus dem Gleichgewicht geratenen Menschen. Pass mal auf, ich zeige dir, was ich meine!“ Er sah sich kurz um und winkte dann David zu sich.
David erschrak. Erst nach einigen Augenblicken und nachdem er sich fragend umgeschaut hatte, erkannte er, dass der Regisseur ihn meinte. Er sollte zu ihm kommen.
„Hallo. Ich bin – wie schon mal gesagt – Frank Carda. Kannst du unserem Möchtegernhelden mal zeigen, was ich meine?“, sprach Carda ohne Umschweife.
Davids Blick wechselte zwischen Ben und Frank hin und her.
„Was meinen Sie?“ David wurde unsicher.
„Du hast gehört, was das Problem ist?“
David nickte stumm.
„Schön, kannst du dann bitte mal zeigen, was man bei der Darstellung dieser Szene besser machen kann?“
„Aber Mr Carda, ich kann doch nicht ...“
„Doch, doch, ich denke, du kannst. Du hast gehört, um was es geht, und die Szene dürftest du jetzt auch oft genug gesehen haben.“
David schluckte. Seine Zunge schien an seinem ausgetrockneten Gaumen zu kleben. „Ja, aber ...“
„Nichts aber!“, unterbrach ihn Carda. „Versuch es einfach mal. Los! Alle auf Ausgangsposition – und das Ganze von vorne.“
Die Akteure nahmen wieder ihre Positionen ein. David zitterte vor Aufregung am ganzen Leib. Mit wackligen Knien ging er an die Stelle, an der bei den ersten zwanzig Versuchen Ben Morgan gestanden hatte.
„Und ... Action!“
David konnte sich hinterher nicht mehr so recht erinnern. Irgendwie hatte er den Text, den er durch das wiederholte Drehen der Szene auswendig kannte, heruntergespult und sich dabei ganz in die gespielte Situation vertieft. Er hatte alles um sich vergessen: die Kameras, die Scheinwerfer, die Kulissen und all die anwesenden Leute. Er hatte nur seine Filmpartnerin gesehen und die Szene so gut er konnte gespielt. Vielmehr: Er hatte nicht die Rolle des Stuart Kenneth’ gespielt, sondern war zu Stuart Kenneth geworden.
Der Dreh dauerte etwa fünf Minuten. Als die Szene abgespielt war, sahen David und auch die anderen fragend in die Richtung des Regisseurs. Sie warteten auf seine Reaktion.
Doch es dauerte eine ganze Weile, bis sich Carda aus seinem Stuhl erhob und langsam in die Kulisse zu den Schauspielern trat. Sein Blick wechselte zwischen Myriam und David hin und her. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, und jeder im Raum fragte sich, was nun kommen würde. David konnte am allerwenigsten den Kommentar des Regisseurs erwarten.
Endlich besann sich Frank Carda. „Ben? ... Ben!“
Morgan erschien neben ihm.
„Hast du das gesehen? Hast du dir das genau angesehen?“
Ben zuckte mit den Schultern. „Ja, habe ich. Aber was war daran so besonders? Was war denn anders?“
Carda starrte seinen Hauptdarsteller verständnislos an. „Was daran Besonderes war? Das fragst du allen Ernstes?“
Schwerfällig drehte er sich um und verließ die Kulisse. Sekunden später ließ er sich müde in seinen Stuhl fallen und sah gedankenverloren auf den Boden. Es dauerte etwa eine Minute, bevor er wieder etwas sagte. „Genug für heute!
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