Endymion - Pforten der Zeit & Die Auferstehung
mit dem Schiff fliehen.«
»Nein«, sagte der alte Mann. »Nicht Jahrhunderte. Nicht Jahrzehnte. Ihr werdet mit dem Schiff zu einer der nächsten Welten der ehemaligen Hegemonie fliehen. Danach werdet ihr einen geheimen Weg reisen. Ihr werdet die alten Welten sehen. Ihr werdet auf dem Fluss Tethys reisen.«
Nun wusste ich, dass der alte Mann den Verstand verloren hatte. Als die Farcaster zusammenbrachen und der TechnoCore der KI die Menschheit im Stich ließ, waren das Weltennetz und die Hegemonie am selben Tag gestorben. Der Menschheit war erneut die Tyrannei der interstellaren Entfernungen aufgezwungen worden. Heute trotzten nur noch die Streitkräfte des Pax, ihre Marionette Mercantilus und die verhassten Ousters der Dunkelheit zwischen den Sternen.
»Komm«, flüsterte der alte Mann. Es gelang ihm nicht, die Finger gerade zu machen, als er mir winkte. Ich beugte mich über die niedere Komkonsole. Ich konnte ihn riechen... eine undefinierbare Mischung von Medizin, Alter und so etwas wie Leder.
Ich musste mich nicht an Grandams Lagerfeuergeschichten erinnern, um mir über den Fluss Tethys Aufschluss zu verschaffen und zu wissen, warum mir jetzt klar war, dass die Senilität des alten Mannes weit fortgeschritten war. Alle kannten den Fluss Tethys; er selbst und der so genannte Große Rundgang waren zwei konstante Farcasteralleen zwischen den Welten der Hegemonie gewesen. Der Rundgang war eine Straße, die mehr als hundert Welten unter mehr als hundert Sonnen miteinander verbunden hatte; seine breite Allee war für jedermann offen und mittels Farcasterportalen verbunden, die nie geschlossen wurden. Der Fluss Tethys war eine Route, die nicht so oft bereist wurde, aber dennoch von Bedeutung für die Handelsschiffahrt und Tausende Vergnügungsjachten gewesen war, die mühelos auf einer einzigen Wasserstraße von einer Welt zur nächsten steuerten.
Der Fall der Farcasterverbindung des Weltennetzes hatte den Rundgang in tausend separate Bruchstücke zersplittert; der Tethys hatte einfach aufgehört zu existieren; da die verbindenden Portale nutzlos geworden waren, zerbrach der einzige Fluss zwischen hundert Welten zu hundert kleineren Flüssen, die nie wieder verbunden sein würden. Selbst der alte Dichter, der vor mir saß, hatte das Ende des Flusses beschrieben. Ich erinnerte mich der Worte von Grandams Rezitation der Cantos:
Und der Fluss, der sich einst strömend wand,
Zwei Jahrhunderte und mehr,
Der Welten durch Zeit und Raum verband
Durch die Tricks des TechnoCore,
Hat nun aufgehört zu fließen
Auf Fuji und auf Barnards Welt,
Auf Acteon und Deneb Drei
Auf Esperance und Nevermore.
Überall der Tethys floss
Wie geflocht‘ne Bänder
Durch der Menschen Welt.
Dort blieben die Portale tot,
Dort trockneten die Flüsse aus,
Dort wirbelte kein Strudel mehr.
Dahin die Tricks des TechnoCore,
Kein Reisender tritt mehr hervor.
Verschlossen das Portal, verschlossen das Tor,
Floss hier der Tethys? Nimmermehr.
»Komm näher«, flüsterte der alte Dichter, der mir immer noch mit seinem gelben Finger winkte. Ich beugte mich über ihn. Der Atem des uralten Geschöpfs war wie ein trockener Wind aus einem offenen Grab – frei von Geruch, aber uralt – und erinnerte irgendwie an vergangene Jahrhunderte, als er mir zuflüsterte:
»Wo Schönheit ist, ist Freude auch für immer:
Es wächst die Lieblichkeit, und sie wird nimmer
In nichts vergehn...«
Ich zog den Kopf zurück und nickte, als hätte der alte Mann etwas Sinnvolles gesagt. Es lag auf der Hand, dass er verrückt war.
Der alte Dichter kicherte, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Jene, die die Macht der Dichtung unterschätzen, haben mich oft verrückt genannt.
Entscheide dich jetzt noch nicht, Raul Endymion. Wir werden uns später zum Dinner treffen, und dann werde ich dir den Rest deiner Aufgabe beschreiben. Entscheide dann. Vorerst... ruh dich aus! Tod und Wiederauferstehung müssen dich müde gemacht haben.« Der alte Mann beugte sich vor, und ich hörte das trockene Krächzen, das ich jetzt als Gelächter identifizieren konnte. Der Androide brachte mich in mein Zimmer zurück. Durch die Turmfenster konnte ich Innenhöfe und Nebengebäude sehen. Einmal sah ich einen anderen Androiden – ebenfalls männlich –, der an den Obergaden auf der gegenüberliegenden Seite eines Innenhofs vorbeischritt.
Mein Führer öffnete ein Fenster und trat zurück. Mir wurde klar, dass ich nicht eingesperrt werden würde, dass ich kein Gefangener
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