Endymion - Pforten der Zeit & Die Auferstehung
und hebt die Hände an die Schläfen, eine Geste, die ich sie nicht mehr habe benutzen sehen, seit sie ein Kind war. In dieser Nacht sieht sie nicht wie ein Kind aus. Ihre Augen blicken müde, aber lebendig. Fältchen von Erschöpfung oder Sorge sind um die Augen herum zu sehen.
Ich liebe ihre Augen.
»Die Bindende Leere ist ein beseeltes Ding«, sagt sie mit Nachdruck. »Es stammt von beseelten Dingen ab – von denen viele ihrerseits von beseelten Dingen erschaffen wurden.
Die Bindende Leere besteht aus Quantenstoff, ist verwoben mit dem Planck-Raum und der Planck-Zeit und liegt unter der Raum/Zeit und um sie herum wie eine Steppdecke unter einer Baumwollfüllung und um sie herum. Die Bindende Leere ist weder mystisch noch metaphysisch, sie fließt aus den physikalischen Gesetzen des Universums und gehorcht ihnen, aber sie ist ein Produkt dieses sich entwickelnden Universums. Die Leere wird aus Denken und Fühlen geformt. Sie ist ein Artefakt des Bewusstseins des Universums von sich selbst. Und nicht nur menschlichen Denkens und Fühlens – die Bindende Leere ist ein Konglomerat von hunderttausend vernunftbegabten Rassen über einen Zeitraum von Milliarden Jahren hinweg. Sie ist die einzige Konstante in der Evolution des Universums –
die einzige gemeinsame Basis von Rassen, die Millionen von Jahren und Hunderte Millionen von Lichtjahren voneinander entfernt entstehen, wachsen, gedeihen, vergehen und sterben werden. Und es gibt nur eine Zugangsmöglichkeit zu der Bindenden Leere...«
Aenea macht wieder eine Pause. Ihre junge Freundin Rachel sitzt mit übereinander geschlagenen Beinen und aufmerksam ganz in ihrer Nähe.
Zum ersten Mal fällt mir auf, dass Rachel – die Frau, auf die ich in den vergangenen paar Monaten albernerweise eifersüchtig gewesen bin – tatsächlich eine Schönheit ist: kurz geschnittenes und lockiges kupferbraunes Haar, Wangen gerötet, kleine braune Fleckchen in den großen, grünen Augen. Sie ist etwa in Aeneas Alter, Anfang zwanzig Standard, und ihre Haut hat nach Monaten der Arbeit in den höchsten Höhen unter der gelben Sonne von T’ien Shan einen goldbraunen Ton.
Aenea berührt Rachels Schulter.
»Meine Freundin hier war ein Baby, als ihr Vater ein interessantes Faktum über das Universum herausfand«, sagt Aenea. »Ihr Vater, ein Gelehrter namens Sol, war jahrzehntelang besessen von der historischen Beziehung zwischen Gott und den Menschen. Eines Tages, unter den extremsten Umständen, als er der Tatsache ins Auge sehen musste, dass er seine Tochter zum zweiten Mal verlieren würde, wurde Sol Satori gewährt
– er sah vollkommen und intuitiv, was nur wenigen anderen in den Millionen Jahren unserer langsamen geistigen Entwicklung zu sehen vergönnt war... Sol sah, dass die Liebe eine reale und gleichwertige Kraft des Universums ist, so real wie Elektromagnetismus oder schwache Kernkraft. So real wie die Schwerkraft und von vielen derselben Gesetze bestimmt. Das Gesetz, demzufolge sich die Anziehungskraft umgekehrt proportional zum Quadrat der Entfernung verhält, funktioniert zum Beispiel bei der Liebe oft genauso wie bei der Gravitation.
Sol erkannte, dass die Liebe die bindende Kraft der Bindenden Leere ist, Faden und Stoff des Gewandes. Und in diesem Augenblick des Satori wurde Sol klar, dass die Menschheit nicht die einzige Näherin dieses grandiosen Gobelins ist. Sol sah die Bindende Leere und die Kraft der Liebe dahinter, konnte aber keinen Zugang zu dem Medium erlangen. Wir Menschen, die wir uns erst in jüngster Vergangenheit aus unseren Vettern, den Primaten, entwickelt haben, haben noch nicht die sinnliche Wahrnehmungsfähigkeit entwickelt, um die Bindende Leere klar zu sehen oder in sie einzudringen.
Ich sage ›klar zu sehen‹, weil alle Menschen mit unvoreingenommenem Herzen und Verstand seltene, aber gewaltige Blicke in die Landschaft der Leere werfen können. So, wie Zen nicht eine Religion ist, sondern Religion ist, so ist die Bindende Leere nicht ein geistiger Zustand, sondern der geistige Zustand. Die Leere besteht nur aus Wahrscheinlichkeit in Form stehender Wellen, die mit der stehenden Wellenfront interagiert, die Verstand und Persönlichkeit des Menschen bilden. Die Bindende Leere wird von jedem von uns berührt, der schon einmal vor Glück geweint, einem Geliebten Lebewohl gesagt, den Höhepunkt eines Orgasmus erlebt, am Grab eines geliebten Menschen gestanden oder gesehen hat, wie sein Baby zum ersten Mal die Augen aufschlägt.«
Aenea sieht
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