Endymion - Pforten der Zeit & Die Auferstehung
sich auf der zentralen Gompaplattform versammelt, während die Dunkelheit herniedersinkt. Glücklicherweise hält sich der Monsun nach dem ersten Vorgeschmack seines grauen Regens zurück; der Abend ist herrlich, als die Sonne westlich des K’un-Lun-Massivs untergeht. Fackeln knistern auf der Achse der Haupttreppe, Gebetswimpel flattern.
Mich überrascht, wer heute Abend alles erschienen ist: Der Tromo Trochi von Dhomu ist von Potala zurückgekehrt, obwohl er verkündet hat, wie dringend er mit seinen Waren nach Westen zurückkehren muss; die Dorje Phamo ist mit ihren sämtlichen neun Lieblingspriesterinnen da; zahllose berühmte Gäste von dem Empfang im Palast sind erschienen – überwiegend jüngere Leute –, und der Jüngste und Berühmteste von allen, der sich bemüht, in schlichter roter Robe mit Kapuze unerkannt zu bleiben, ist der Dalai Lama selbst, ohne seinen Regenten und Zeremonienmeister, lediglich in Begleitung seines persönlichen Leibwächters, des Obersten Ausrufers Carl Linga William Eiheji.
Ich stehe im hinteren Teil des überfüllten Raums. Etwa eine Stunde lang ist die Diskussionsrunde tatsächlich eine Diskussionsrunde, die manchmal von Aenea geführt, aber niemals von ihr beherrscht wird. Aber langsam geben ihre Fragen dem Gespräch eine Wendung in ihre Richtung. Mir wird klar, dass sie eine Meisterin des Tantrischen und des Zen-Buddhismus ist, während sie Mönchen antwortet, die Jahrzehnte damit verbracht haben, diese Disziplinen in Koan und Dharma zu meistern. Einem Mönch, der wissen will, warum sie das Angebot des Pax auf Unsterblichkeit nicht als eine Form der Wiedergeburt akzeptieren sollten, antwortet sie, indem sie Buddha zitiert, der sagte, dass kein Individuum wieder geboren wird, dass alle Dinge dem annicca unterworfen sind – dem Gesetz der Veränderung –, und dann lässt sie sich über die Doktrin des anatta aus, wörtlich des
»Nicht-Selbst«, der Behauptung Buddhas, dass es so etwas wie eine persönliche Wesenheit namens Seele nicht gibt.
Als Antwort auf eine weitere Frage nach dem Tod zitiert Aenea einen Zen-Koan:
»Ein Mönch sagte zu Tozan: ›Ein Mönch ist gestorben; wohin ist er gegangen?‹ Tozan antwortete: ›Nach dem Feuer sprießt frisches Gras.‹«
»M. Aenea«, sagt Kuku Se, deren blasses Gesicht gerötet ist, »bedeutet das mu?«
Aenea hat mir erklärt, dass mu ein elegantes Zen-Konzept darstellt, das man übersetzen könnte mit: »Mach die Frage ungestellt.«
Meine Freundin lächelt. Sie sitzt weit von der Tür entfernt an einer freien Stelle nahe der offenen Wand des Zimmers, und über dem Heiligen Berg des Nordens kann man die Sterne hell und klar sehen. Das Orakel ist noch nicht aufgegangen.
»Das bedeutet es bis zu einem gewissen Grad«, sagt sie leise. Gespannte Stille herrscht in dem Raum. »Es bedeutet aber auch, dass der Mönch mausetot ist. Er nicht irgendwo hingegangen – viel wichtiger, er ist nirgendwo hingegangen. Aber auch das Leben ist nirgendwo hingegangen.
Es geht in einer anderen Form weiter. Manche betrauern den Tod des Mönchs, aber das Leben hat keinen Verlust erlitten. Nichts wurde dem Gleichgewicht des Lebens im Universum entzogen. Doch das ganze Universum – wie es in Herz und Hirn des Mönchs reproduziert war – ist selbst gestorben. Seppo hat einmal zu Gensha gesagt: ›Mönch Shinso hat mich gefragt, wohin ein gewisser toter Mönch gegangen ist, und ich sagte ihm, es wäre wie Eis, das zu Wasser wird.‹ Gensha sagte: ›Das war schon recht so, aber ich selbst hätte nicht so geantwortet.‹ ›Was hättest du gesagt?‹, fragte Seppo. Gensha entgegnete: ›Es ist wie Wasser, das zum Wasser zurückkehrt.‹«
Nach einem Augenblick der Stille sagt jemand im vorderen Teil des Raums: »Erzähl uns von der Bindenden Leere.«
»Es war einmal«, beginnt Aenea, wie sie solche Erklärungen immer beginnt, »eine Leere. Und die Leere war jenseits der Zeit. In einem durchaus realen Sinne war die Leere eine Waise der Zeit... eine Waise des Raumes.
Aber die Leere war nicht eine der Zeit, nicht eine des Raums und mit Sicherheit nicht eine Leere Gottes. Und die Bindende Leere ist auch nicht Gott. In Wahrheit entwickelte sich die Leere, lange nachdem Zeit und Raum die Grenzen des Universums abgesteckt hatten, aber da sie nicht an die Fesseln der Zeit gebunden ist, schwappte die Bindende Leere vorwärts und rückwärts durch das Kontinuum bis zum Anbeginn des Urknalls und dem Ende des Leisen Winselns.«
Hier macht Aenea eine Pause
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