Endymion Spring - Die Macht des geheimen Buches
Zappeln in der rechten Hand, als wolle der Drachen entwischen. Zitternd strichen seine feinen Schuppen über Blakes Haut.
Er sah von dem Origamidrachen zur geschlossenen Tür seiner Schwester hin. »He, du gehörst mir, nicht ihr«, sagte er streng. »Ich will dich mit niemandem teilen.«
Er legte den Drachen auf seinen Nachttisch.
Als er den Apfel gegessen und sich die Zähne geputzt hatte, nahm er seine Jacke von der Stuhllehne und schwang sich den Rucksack über die Schulter. Dann fiel ihm das rote Halstuch des Hundes ein, und er lief hinunter, um es zu holen. Er stopfte es zu den nicht beachteten Arbeitsblättern, die ihm sein Lehrer für die Zeit in Oxford mitgegeben hatte, und setzte den Drachen vorsichtig darauf. Während er den Schlüssel vom Haken im Flur nahm und hinausging, überlegte er, was er zu dem Obdachlosen sagen würde, wenn er ihn sähe.
Es hatte zu regnen aufgehört, aber die Luft war feucht und kühl. Ein frischer Wind riss an den Wolken und zog sie wie Watte auseinander. Blake vergrub die Hände in den Taschen und ging in Richtung Fluss.
Zwanzig Minuten später kam er an dem Buchladen vorbei, wo er gestern Nachmittag den Obdachlosen gesehen hatte. Bis auf Touristen in bunten Regenjacken war niemand unterwegs. Keine Spur von dem Mann oder seinem Hund.
Enttäuscht stand Blake da und sah zu, wie ein junger Mann einen Stapel Bücher in dem vollgepackten Schaufenster umstellte. Plötzlich kam ihm eine Idee. Vielleicht würde er das Buch finden, das seine Mutter als Kind so geliebt hatte? Vielleicht könnte er es kaufen und ihr schenken - sozusagen als Entschuldigung wegen gestern Abend? Er ahnte, dass eine ernsthafte Auseinandersetzung mit ihr bevorstand, aber die Sache mit dem Buch wäre auf jeden Fall hilfreich. Er musste lächeln über seinen Scharfsinn.
Ein kurzer Blick auf die Uhr: gerade noch Zeit genug, das Buch aufzustöbern - es ging darin irgendwie um Schmetterlinge -, zum College zu laufen und im Speisesaal auf seine Mutter zu warten. Ohne noch länger zu überlegen, ging er in das Geschäft.
Über der Tür bimmelte ein Glöckchen, und Blake blieb unschlüssig am Eingang stehen. Er hatte keine Ahnung, wohin er sich wenden sollte. Der Laden war länger und schmäler, als er erwartet hatte, jede Wand bis oben hin mit Büchern vollgestellt. Auf dem Boden stapelten sich übergroße gebundene Bücher, die wie urzeitliche Felsformationen vor den Regalen aufragten. Bis auf den Mann, der im Fenster beschädigte Taschenbücher umräumte, schien niemand im Laden zu sein.
»Entschuldigung«, sagte Blake leise, »wo sind ...«
»Unterhaltungsliteratur vorn, Fachliteratur hinten, Geschichte um die Ecke«, erklärte der Mann, ohne aufzublicken. »Links Natur, Werken, Handarbeiten und der ganze Omi-Kram - interessiert dich ja wohl nicht. Erstausgaben hinter Glas, in Sicherheit vor schmuddeligen kleinen Fingern wie deinen. Moderne Sprachen, Klassiker und Kinderbücher oben.«
Erstaunt hörte Blake zu, wie der Mann das alles in aufbrausendem Ton und in einem Atemzug herunterschnurrte. Mit jedem neuen Zusatz traten seine Augen ein wenig weiter aus den Höhlen und wanderten über die Reihen der unordentlich zusammengestellten Bücher. Trotzdem wusste Blake immer noch nicht, wohin er sich wenden sollte.
»Was, du stehst immer noch da?«, sagte der Mann, der die Ratlosigkeit des Jungen spürte. Diesmal richtete er sich auf. Er war nicht viel größer als Blake, hatte dichte, borstige Augenbrauen, die in der Mitte zusammenstießen wie einander bekriegende Raupenfahrzeuge. Auf seinem verwaschenen T-Shirt stand der Name einer Rock-Band, den Blake noch nie gehört hatte: The Plastic Dinosaurs.
Ein handgestrickter Schal wand sich um seinen Hals wie ein träger Python, die regenbogenbunten Enden schleiften auf dem Boden.
Blake wich einen Schritt zurück, ihm war, als sei er in eine Szene aus Alice im Wunderland geraten, Ducks Lieblingsbuch.
Als der Mann Blakes Verunsicherung sah, schlug er einen milderen Ton an. »Was kann ich für dich tun?«, fragte er, jetzt relativ ruhig. Ein Grinsen zog sich über sein Gesicht, und Blake begriff, dass er nur so brummig und schlecht gelaunt tat.
Aus seiner Erinnerung klaubte er zusammen, was ihm die Mutter über ihr damaliges Lieblingsbuch erzählt hatte, und versuchte, es so gut er konnte zu beschreiben.
»Ich erinnere mich nicht, dass ein Kinderbuch dabei war«, erwiderte der Mann nachdenklich und kratzte sich im Nacken. »Könnte natürlich inzwischen
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