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Endymion Spring - Die Macht des geheimen Buches

Endymion Spring - Die Macht des geheimen Buches

Titel: Endymion Spring - Die Macht des geheimen Buches Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthew Skelton
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lederne Werkzeugtasche umklammert, jetzt legte ich sie offen neben mich auf den Boden. Von meiner Neugier getrieben strich ich mit den Fingern über die geschnitzten Seiten der Truhe, bis ich die Rundungen der Schlangenköpfe am Rand des Deckels fühlte. Es gelang mir nur schwer, meine zittrigen Finger zu beherrschen. Aber ich wusste, was ich zu tun hatte.
    Ich holte tief Luft, dann tastete ich mit den Fingern über die glatten, leicht gewölbten silbernen Fänge bis hinab zu den Zahnspitzen. Sie fühlten sich scharf und kalt an, und als ich fest in die Haut gebissen wurde, zuckte ich zusammen.
    Trotz allem, was ich gesehen hatte, erwartete ich, dass ein Giftstrom in meinen Körper fließen und mich in Schlaf lullen würde. Aber nichts geschah. Nach dem ersten stechenden Schmerz bereitete das Saugen der Schlangenzähne nur ein merkwürdig kühles, angenehmes Gefühl.
    Ich war gespannt, ob ich für rein genug befunden werden würde.
    Nicht lange, und es hörte zu bluten auf. Ich folgte Fusts Beispiel, schob die Schlangenzähne zusammen und sah, dass sie sich plötzlich wie durch ein Wunder voneinander lösten und der Deckel sich öffnete.
    Ich fuhr zusammen, als plötzlich das Feuer hell aufloderte.
    Im selben Augenblick erkannte ich, dass die Fänge, die ich lange so gefürchtet hatte, gar nicht zu den Schlangen sondern zum Drachen gehörten: Es waren Krallen, die vorn durch den Deckel gebohrt waren und aus den Mäulern der Schlangen ragten. Die Schlangen waren nur Attrappe, Abschreckung - der Drache selbst bewachte die Truhe und alles, was darin war. Seine Krallen hatten aus meinen Fingern gelesen und mir den Zugang erlaubt.
    Mit neuem Mut tauchte ich die Hände in die Truhe. Die oberste Schicht der Drachenhaut fühlte sich an wie eine Decke aus gefrorenen Blättern. Grün und silbrig lagen sie übereinander wie die Panzerplatten einer unbezwingbaren Rüstung. Ich musste mir erst ins Gedächtnis rufen, dass es sich weder um Blätter noch um ein Kettenhemd handelte, sondern tatsächlich um Schuppen! Drachenschuppen!
    Wie konnte das sein? Mein Herz pochte laut.
    Das Pergament unter der schuppigen Haut schimmerte sanft wie ein wogender See, und ich versenkte die Hände darin. Meine Finger verschwanden in einem Berg von Papier, so kalt und weich wie Schnee, aber ohne die beißende Kälte. Meine Haut prickelte, und mich durchströmte ein Gefühl tiefer Geborgenheit.
    Fast gierig nahm ich mehrere Pergamentbogen heraus und sah zu, wie die Luft jeden einzelnen bewegte, ihn blähte und mit Leben erfüllte. Ich konnte kaum meine Aufregung bezwingen. Die Häutchen waren dünn wie Mottenflügel und von innen wie von einer seltsamen Lichtquelle beleuchtet. Ich war fasziniert, wie verzaubert.
    Plötzlich entdeckte ich noch etwas. Wörter flimmerten vor meinen Augen, Wörter wie aus hauchzarten silbernen Spinnfäden, Wörter wie ein rätselhafter Orakelspruch. Woher waren sie gekommen? Ich las sie schnell, gespannt, ihre Botschaft zu erfahren.

    Heiß lief es mir den Rücken hinunter. Mein Name! Der Drache sprach mich persönlich an, so wie er vor Jahren Costers Enkelin angesprochen hatte. Meine Hände fingen an zu zittern.
    Gleichzeitig erschienen immer andere Wörter, andere Botschaften auf den Papierbogen, die sich zwischen meinen Fingern entfalteten. Pergamenttaschen öffneten sich wahllos, und jede enthüllte einen verborgenen Eingang zur Weisheit, jede war ein eigenes kleines Buch. Es war herrlicher als alles, was ich mir vorgestellt hatte -und viel schneller als Meister Gutenbergs Presse. Innerhalb von wenigen Seiten stiegen ganze Königreiche empor, fielen zusammen und hinterließen ihre wortreichen Vermächtnisse. Am liebsten wäre ich jedem neuen Pfad, jeder neuen Treppe aus Papier gefolgt, um herauszufinden, wohin sie führte, aber mit einem Mal verwandelte sich meine Begeisterung in Furcht.
    Wie ein Schatten, der in die Werkstatt kroch, beschlich mich ein Verdacht. War das nicht genau das, was Fust die ganze Zeit gewollt hatte? Die Antworten auf die Geheimnisse der Welt offen vor sich zu haben wie in einem aufgeschlagenen Buch? Immer mehr Texte erschienen auf dem magischen Pergament, drangen durch die Papierhaut, quollen bis in die Truhe hinein. Die Wörter waren nicht mehr aufzuhalten!
    Jetzt erkannte ich das Verhängnisvolle meiner Handlungsweise. Ich hatte eine ganze Welt des Wissens geöffnet - das Buch der Bücher, dessen Ende nicht vorstellbar war. Wie konnte ich es wieder schließen?
    Ein Schwall Nachtluft wehte

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