Endymion Spring - Die Macht des geheimen Buches
Tür, aber da war nur die winzige, schimmernde Glaslinse über dem Schloss: ein Spion. Er blinzelte hindurch. Draußen war niemand.
Um sich zu überzeugen, sperrte er auf und ging hinaus.
Nieselregen verwandelte die Blätter auf dem Weg in eine schmierige, glitschige Schicht. Ein feuchter herbstlicher Geruch hing in der Luft. Doch bis auf einen mutigen Jogger, der weiter vorn die Straße zum Fluss überquerte, lag die Millstone Road verlassen da. Ein normaler Septembermorgen.
Blake rieb sich die Arme, um das Kältegefühl zu vertreiben, dann schloss er die Tür von innen und sperrte hinter sich ab.
Mit dem Fuß stieß er behutsam gegen den Stoff. In dem Beutel rührte sich nichts.
Nach einer Weile fiel ihm ein komischer Geruch auf, nach Schmutz, nach feuchtem Fell. In seiner Nase juckte und kitzelte es, als müsse er jeden Moment niesen. Es roch nach Tier.
Schlagartig fiel es ihm ein: Der Lappen gehörte dem Hund, den er vor der Buchhandlung gesehen hatte. Es war sein rotes Halstuch!
Schnell bückte er sich und hob es auf. Es war leicht wie jedes gewöhnliche Halstuch. Konnte denn überhaupt etwas darin eingewickelt sein?
Mit größter Vorsicht, als enthielte es eine Bombe, ging er mit dem Päckchen auf Zehenspitzen durch die Küche und legte es auf den Esstisch. Er lockerte den Knoten und wagte einen Blick ins Innere des provisorischen Beutels. Unwillkürlich wich er zurück.
Was war das?
Auf den ersten Blick erinnerte es an einen großen Grashüpfer oder an ein ausgetrocknetes Insekt: In dem Beutel kauerte ein gespenstisches Skelett, von Hunderten kleiner Erhebungen wie von Schuppen überzogen. Blake rechnete fast damit, dass die Kreatur ihn anspringen würde, aber nichts geschah. Sie war tot.
Mit laut klopfendem Herzen trat Blake wieder an den Tisch, und dieses Mal band er den Beutel ganz auf.
Es war kein Grashüpfer, sondern eine Eidechse mit langem, geschlängeltem Schwanz, kaum größer als Blakes Hand. Jedes seiner Reptilienbeine war mit scharfen Krallen bewehrt, bereit jede arglose Beute in Stücke zu reißen. Er tippte es leicht mit dem Finger an. Es schaukelte hin und her, vollkommen harmlos. Trotz der Schuppen, die wie ein Panzer um seinen Körper lagen, fühlte es sich weich und leicht an wie eine Mumie. Als Blake es in die Hand nahm, stellte er fest, dass es aus gefaltetem Papier war.
Er spürte, wie ihn plötzlich ein merkwürdiges Kribbeln durchlief, seine Gedanken überschlugen sich, sein Herz raste. Plötzlich wusste er genau, woher dieses Papier stammte ... Endymion Spring!
Er hielt das Schuppentier vorsichtig in seiner zittrigen Hand und betrachtete es genauer. Das war die komplizierteste Origamiarbeit, die er je gesehen hatte.
Einen Augenblick dachte er daran, das Tier auseinander zu falten und nachzuschauen, ob sich auf dem Papier vielleicht eine weitere Nachricht fände. Aber er brachte es nicht übers Herz, die schöne Eidechse zu zerstören. Keine Spur von Tinte schimmerte durch die Schuppen, und Blake fürchtete, er würde sie umsonst zerlegen. Es war, als sei das Ding selbst die Botschaft: ein Gruß oder eine Einladung oder gar ein Hinweis. Aber was bedeutete es?
Als er die Eidechse in seiner Hand umdrehte, löste er versehentlich einen Mechanismus aus, der zu beiden Seiten des Tieres je zwei Papierröllchen freigab. In Blakes Fingern entfalteten sich hauchdünne Flügel aus Pergament. Sie waren glatter und stärker als Seide und doch so gut wie durchsichtig. Er hielt sie ans Licht. Ein Geflecht feiner Äderchen schimmerte in ihrem Innern - genau wie bei dem Buch, das er gestern in der Bibliothek gefunden hatte.
Er schluckte schwer, sein Atem ging schnell und flach.
Das Tier war keine Eidechse, sondern ein Papierdrache: ein Drache aus dem wundervollsten Papier, das er je gesehen hatte; ein Papier, das direkt mit ihm zu sprechen schien; ein Papier, das ihn möglicherweise in Kontakt mit Endymion Spring bringen konnte.
Aber erklärt war damit nichts.
Neun
lake war so vertieft in seine Entdeckung, dass er darüber fast die Zeit vergaß. Zum Glück machte sich sein Magen bemerkbar: Ein Knurren wie ferner Donner erinnerte ihn an die Verabredung mit seiner Mutter. Wenn er das Mittagessen verpasste, so wie er schon das Frühstück versäumt hatte, würde er ihren Unmut nur wieder neu entfachen.Er schnappte sich einen Apfel aus der Küche, dann lief er hinauf, um sich fertig zu machen. Als er an der Zimmertür seiner Schwester vorbeikam, spürte er ein schwaches
Weitere Kostenlose Bücher