Endymion Spring - Die Macht des geheimen Buches
was ein Esq. sei, in jedem Fall aber gab ihm die Anrede ein Gefühl von Vornehmheit und Bedeutung, fast als wäre er selbst ein Ritter. Er setzte sich ein wenig aufrechter.
Schließlich öffnete er den Umschlag. Im Innern fand er eine kurze Nachricht in derselben Schnörkelschrift:
Er sah auf. Hatte der unbekannte Schreiber seine Gedanken erraten? Sein Kopf wimmelte nur so von Fragen. Er drehte das Blatt um und las:
Ein breites Lächeln zog über Blakes Gesicht. Er würde nicht nur Gelegenheit bekommen, die Alte Bibliothek von innen zu sehen, er würde vielleicht sogar auch das Geheimnis des unbedruckten Buches erfahren! Die Dinge entwickelten sich!
Er reckte den Hals, um von seinem Platz aus die Alte Bibliothek zu sehen, konnte aber nur die Türme über dem Kreuzgang erkennen, halb verborgen hinter einem Schirm aus Blättern. Dennoch -er schauderte vor Aufregung und freudiger Erwartung.
Die Stimme seiner Schwester brachte ihn mit einem Schlag in die Realität zurück. Das erste Hindernis, das zu bewältigen war: die Erlaubnis seiner Mutter. Würde sie ihn gehen lassen? Nach der Art, wie sie ihre Aktenmappe hielt, ahnte er, dass sie den ganzen Nachmittag in der Bodleian Library verbringen wollte. Das konnte nur eines bedeuten: Er würde wieder mal als Ducks Aufpasser herhalten müssen.
Er seufzte. Wie im Einklang mit seiner Befürchtung fiel eine neue Salve Regentropfen durch die Blätter auf Professor Jolyons Schreiben, so dass die Tinte verschmierte.
»Mum hat jetzt eine E-Mail-Adresse«, verkündete Duck, kaum dass sie in Hörweite waren. »Ist das nicht super?«
»Ja, ja, toll«, antwortete er wenig überzeugt. Er stand auf und musste feststellen, dass sich ein feuchter, herzförmiger Fleck auf seinem Hosenboden gebildet hatte. Duck kicherte.
Blake wusste, dass seine Mutter in der Bodleian Library auf ein schwer aufzutreibendes Manuskript gestoßen war und dass sie sich deshalb bei Dr. Morgan, dem Fachbereichsleiter, um die Verlängerung ihres Oxford-Aufenthaltes bemühte. Insgeheim hatte er immer gehofft, das College würde nicht auf ihre Bitte um einen eigenen Internetanschluss eingehen, dann hätte sie nicht so einfach eine Verlängerung beantragen können. Aber nun schien diese Frage geklärt.
»Jetzt können wir Dad jeden Tag mailen«, sprudelte Duck. »Ich hab ihn gerade gefragt, ob er seine neuen Zeichnungen fertig hat, und er kann meine Nachricht schon in diesem Moment lesen. Das ist doch, als ob er bei uns wäre!«
»Eben nicht«, schmollte Blake. »Er ist auf der anderen Seite der Welt, falls du's noch nicht mitgekriegt hast.«
Unbekümmert war Duck vorausgesprungen und hatte Blakes Gebrummel nicht gehört. Seine Mutter aber hatte es gehört. Sie sah ihn scharf an - es piekste wie ein Nadelstich - und er zuckte zusammen. Dass sie die Sache von gestern Abend nicht vergessen hatte, war vorauszusehen gewesen. Er ging vor ihr her in Richtung Speisesaal.
Sein Dad hatte seit mehreren Monaten schon zu Hause gearbeitet. Er hatte die tägliche Tretmühle der Arbeit satt gehabt und die Firma in der Stadt verlassen. Gar keine so üble Situation, fand Blake: Sein Vater war immer zu Hause und hatte Zeit für ihn und Duck, während sich die Mutter auf ihre Karriere konzentrierte. Aber kurz vor dem Aufbruch nach England hatte Blake mitbekommen, wie sein Dad einmal verzweifelt gesagt hatte, seine Design-Versuche würden dem Ausdruck »unbeschriebenes Blatt« eine ganz neue Bedeutung geben. Nun grübelte Blake, ob sich Dad nach Ducks E-Mail nicht noch schlechter fühlen würde.
Während er noch überlegte, ob er ihm eine eigene E-Mail schicken sollte, merkte er, dass seine Mutter auf den Umschlag in seiner Hand sah. Er zeigte ihr den Namen auf der Karte.
»Von Professor Jolyon«, sagte er, um ihrer Frage zuvorzukommen. »Er will sich heute Nachmittag mit mir treffen.«
»Ach ja? Weshalb denn?«
Sie klang zweifelnd.
»Ich weiß es nicht«, schwindelte er.
Seine Mutter sah nicht sehr überzeugt aus.
»Darf ich mich auch mit Professor Jolyon treffen?«, rief plötzlich Duck dazwischen. »Bitte!«
»Nein!«, fuhr Blake sie an.
Seine Mutter warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu.
»Aber das geht sie nichts an!«, protestierte er. »Immer muss sie sich einmischen.« Er streckte die Hand aus, um sie zu kneifen.
»Aua! Hör auf!«
»Ich hab dich ja kaum berührt!«
»Hast du wohl!« Duck schluchzte auf und schlug erbost seine Hand weg.
Mit einem festen Griff um das Handgelenk zwang ihn seine Mutter
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