Endymion Spring - Die Macht des geheimen Buches
schiefe Holztüren in geheimnisvolle Räume.Schon vor ein paar Minuten hatte er an die massive Eichentür gehämmert, aber weil niemand gekommen war, befürchtete er allmählich, Jolyon könnte seine Einladung vergessen haben. Ungeduldig strich er mit den Fingern über die Reihen der rund um den Eingang geschnitzten zackenförmigen Zähne und betrachtete gedankenlos die Mönchsgestalten, die im dunklen Deckengewölbe des Torbogens kauerten.
In diesem Augenblick kamen eilige Schritte um die Ecke, und Jolyon erschien, gebeugt und außer Atem. Er trug dasselbe schäbige Jacket und dieselbe fleckige Krawatte wie am Abend zuvor.
»Tut mir Leid, dass ich zu spät komme«, sagte er keuchend. »Gestern Abend hat es einen Zwischenfall in der Bibliothek gegeben, und Paula Richards bat mich, den Schaden zu schätzen.« Die Worte kamen stoßweise. »Wieder ein Besuch unseres nächtlichen Bücherich.«
»Bücherschänder?«, echote Blake erschrocken. Er sah dem Mann ins Gesicht. Es war kantig und zerklüftet wie ein Felsen, doch wurde alles Raue abgemildert vom dichten, überhängenden Dach der Haare. Um die Augen hatten sich tiefe Runzeln eingegraben.
»Schurken, die Bücher zerreißen«, schnaufte der Professor. »Sie reißen Karten und Illustrationen aus alten Büchern und verkaufen sie.« Er holte wieder tief Luft. »Leider hatte St.Jerome's im Lauf der Jahre mehr als genug mit Bücherschändern zu tun.«
Blake wandte sich ab. Anders als der Professor, glaubte er genau zu wissen, was der Missetäter gesucht hatte.
Falls der Mann Blakes innere Erregung bemerkt hatte, ließ er es sich nicht anmerken. »Egal jetzt«, sagte er leichthin. »Wir müssen über andere Dinge sprechen. Wichtigere.«
Wie ein Stromstoß durchfuhr Blake wieder die Aufregung.
Jolyon sah strahlend auf ihn herab. »Ich freue mich, dass du es einrichten konntest, mein Junge. Und wenn ich mich nicht irre, dann ist das Mädchen da deine Schwester ...«
»Duck«, sagte Blake. Sie stand ein Stück entfernt und blinzelte in düsteren Himmel, mit den Gedanken wer weiß wo. Seit dem war sie ungewöhnlich still. »Das ist nicht ihr richtiger Name, aber jeder nennt sie so. Wegen des Regenmantels.«
Der alte Mann tat, als sei der Zusammenhang zwischen dem Namen und dem Regenmantel das Selbstverständlichste der Welt. »Ah ja, verstehe«, sagte er belustigt. »Freut mich, dich kennenzulernen, Duck.«
Sie lächelte ihm schüchtern zu, als sei sie unsicher, ob sie seiner fröhlichen Art trauen sollte.
»Ich wäre allein gekommen«, sagte Blake schnell, »aber meine Mutter hat gesagt, ich soll auf sie aufpassen. Hoffentlich macht es Ihnen nichts aus.«
»Das ist ganz gut so, mein Junge, ganz gut«, sagte der Professor. Er legte beruhigend die Hand auf Blakes Schulter, die unter dem sanften Druck leicht einsackte. »Durchaus möglich, dass in diesem merkwürdigen Rätsel auch Duck eine Rolle zu spielen hat. Sie scheint jedenfalls ein außergewöhnliches Kind zu sein.«
Blake freute sich, dass Jolyon ihn als seinesgleichen behandelte, aber dass seine Schwester ihn offenbar schon beeindruckt hatte, freute ihn weniger. Dabei hatte sie noch nicht einmal ein Wort gesagt!
Bevor er etwas einwenden konnte, angelte der Professor einen altmodischen Schlüssel aus der Hosentasche und steckte ihn ins Schloss der mit Eisenbeschlägen versehenen Tür. »Wollen wir?«, sagte er.
Die schwere Holztür öffnete sich knarrend. Blake war enttäuscht. Vor ihm lag ein kurzer schmaler Gang, der vor einem staubigen, unbenutzten Schrank endete. Ein Schrubber und ein Eimer standen wie Wächter davor.
»Die Alte Bibliothek wird heute leider kaum mehr benutzt, höchstens noch als eine Art bessere Besenkammer«, sagte der Professor, der die Enttäuschung des Jungen spürte. »Dafür kann ich sagen, dass mein Büro eines der am besten gehüteten Geheimnisse des Colleges ist.« Er tippte an seine Nase und zwinkerte. »Hier entlang.«
In einer düsteren Ecke hing ein verblichener Wandteppich, der sich in der Mitte teilen ließ. Dahinter wand sich eine versteckte Treppe in einen quadratischen Turm hinauf. Schon verschwanden die Beine des Professors um die erste Krümmung und tauchten ins Dunkel ein.
»Es ist ein ordentlicher Aufstieg«, rief er von weiter oben, »aber ich denke, ihr werdet es lohnenswert finden. Mein Büro war früher der Kapitelsaal, in dem die offiziellen Zusammenkünfte der Mönche stattfanden.« Seine Stimme entfernte sich immer weiter und wurde leiser.
Blake
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