Endymion Spring - Die Macht des geheimen Buches
sind. Er sagt, du hast irgendwas angestellt, damit die Drachenhaut ihre Fähigkeit nicht nutzen kann. Aber er wird bald dahinterkommen, glaub mir. Und dann bist du in Gefahr. Wir alle sind in Gefahr.«
Er schwieg einen Augenblick, als müsse er noch grübeln über die furchtbare Wahrheit, die es auszusprechen galt. »Es geht ihm nicht nur um Wissen, sondern um Macht. Er will sein wie Gott, und um dieses Ziel zu erreichen, wird er sich sogar mit dem Teufel einlassen. Nichts und niemand wird sich ihm in den Weg stellen können. Auch ich nicht.«
Ich hörte die Kränkung, das Ernüchterte in seiner Stimme, und ich begriff, dass auch er betrogen worden war. Fust hatte ihn benutzt. Seinen plötzlichen Anfall hatte er nur vorgetäuscht, um Peter aus der Werkstatt zu locken, so dass ich aus meinem Versteck hervorkommen und versuchen würde, die Truhe zu öffnen. Er hatte die ganze Zeit gewusst, dass ich da war, und hatte mir den Umgang mit dem Schloss haarklein vorgemacht. Ausprobieren hatte er mich wollen, und ich war in die Falle getappt, ahnungslos wie ein Tölpel!
»Du musst fort«, sagte Peter. Das waren die Worte, die ich am wenigsten hören mochte. Ich wand mich innerlich bei dem Gedanken. Ich wollte nicht wieder allein und verlassen sein.
Peter las die stumme Bitte in meinen Augen. »Du weißt ja nicht, wozu Fust fähig ist«, redete er auf mich ein. »Er wird andere Kinder benutzen, nicht nur dich, die für ihn die Wörter in dem magischen Papier sichtbar machen sollen ... falls das tatsächlich das nötige Mittel ist. Er wird alles tun, um Macht zu erlangen. Du musst fort mitsamt der ganzen verfluchten Drachenhaut! Es ist die einzige Lösung.«
Inzwischen zitterte ich - und nicht nur wegen der Kälte.
Es hielt mich nicht mehr im Bett. Ich stand auf und ging zum Fenster der Schlafkammer, das hoch in der Wand eingelassen war. Ich stellte mich auf einen Schemel und blickte über die friedlich schlafende Stadt. Auch wenn der Frühling gekommen war, ließ nachts ein Hauch von Winter die umliegenden Häuser noch immer silbrig glänzen. Dächer neigten sich dem Dom entgegen wie vereiste Wellen, die sich gegen eine Klippe stürzten. Ich spürte, dass Mainz immer meine Heimat gewesen war. Nichts zog mich fort von hier.
»Die Drachenhaut lässt sich weder verbrennen noch sonst irgendwie vernichten«, überlegte Peter laut. »Das hat er uns gründlich vorgeführt. Also müssen wir sie irgendwo verstecken, wo Fust nie hinkommt, an einem Ort, wohin er dir nicht folgen kann. Aber wo?«
Ich drehte den Kopf und sah zu Peter hin, der die Balken unter der Decke anstarrte. Er fing meinen Blick auf, und als er mich frösteln sah in meinem Nachhemd, hob er einladend die Decken, um mich zu sich ins Warme zu lassen.
Auf Zehenspitzen tappte ich zurück zum Bett und kuschelte mich an seinen warmen, schützenden Körper. Er war mir längst ein Bruder geworden.
»Ich werde Meister Gutenberg bei der Arbeit an der Bibel helfen«, versprach er, zog mir die Decke fest um die Schultern und rollte sich auf die Seite. »Aber du musst fort. Je eher desto besser. Wir werden schon einen Ort finden. Vielleicht nach der Messe in Frankfurt... Bis dahin beschütze ich dich.«
Er gähnte. Trotz meiner misslichen Lage konnte er die Augen nicht länger offen halten und war bald eingeschlafen. Ich blieb ratlos und bekümmert allein im Dunkeln zurück und lauschte auf das Geräusch seines Atems, das in gleichmäßigem Rhythmus stärker und schwächer wurde. Selbst nach all der Unruhe heute Abend ließ er sich willig in eine andere Welt hinübertragen, ins Traumland, in das ich ihm nicht folgen konnte.
Peter hatte Christina. Meister Gutenberg hatte seine Presse. Und ich? Was hatte ich?
Zu meinem Trost tastete ich unter dem Strohsack nach meiner Werkzeugtasche, die ich vorhin dort versteckt hatte. Als meine Finger über das schneeglatte Pergament aus Drachenhaut strichen, ging ein Ruck durch meinen Körper - ich fühlte mich plötzlich ruhig.
Was ich damals noch nicht ahnte, war, dass sich das Pergament bereits auf die bevorstehende lange Reise vorbereitete. Es heftete sich langsam in die Lederumhüllung meiner Werkzeugtasche, und wie durch Zauberhand erschienen neue Drachenkrallen, verschlossen die offene Seite des Bündels wie mit Schließen und hüteten das kostbare Geheimnis.
Dass ich das Buch aufgeschlagen hatte, ließ sich nicht mehr rückgängig machen. Ich hatte eine Geschichte angefangen, die kein Ende hatte, eine Geschichte, in der ich
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