Endymion Spring - Die Macht des geheimen Buches
auf seine Mutter brachte ihn auf den Gedanken, Prosper Marchand zu erwähnen, doch auch das verwarf er. Einen Petzer mochte niemand leiden.
Kaum hatte sich seine Mutter umgedreht, ergänzte er seinen Text mit einer hastigen Nachschrift: Ich wünschte, du wärst hier.
Es war nicht besser als eine Ansichtskarte, aber wenigstens würde sein Vater wissen, dass er an ihn dachte. Er drückte auf Senden und stellte sich vor, wie seine Nachricht fast im gleichen Augenblick auf einem Monitor Tausende Meilen entfernt ankam. Irgendwie machte das die Entfernung nur noch größer.
Blake erfuhr den Grund für die gute Laune seiner Mutter, sobald sie zurück in der Millstone Lane waren. Die Universität hatte den Antrag auf Verlängerung ihres Forschungsaufenthaltes genehmigt.
Nach Weihnachten würde sie für ein weiteres Trimester in Oxford bleiben.
»Nun kann ich die Arbeit an meinem Buch beenden«, sagte sie strahlend. »Das ist großartig.«
Blake antwortete nicht. Er lief in sein Zimmer hinauf und verbarrikadierte sich, er warf die Tür hinter sich zu, setzte sich aufs Bett, den Rücken fest gegen die Wand gepresst, und starrte auf das Streifenmuster der Tapete - die Stäbe seines Gefängnisses. Und was wurde aus ihm? Sollte er zurück zu seinem Vater gehen oder in England bei seiner Mutter bleiben?
Hause ... das Wort schien nicht mehr viel zu bedeuten.
Er fragte sich, wie es Duck zu Mute sein mochte, aber auch sie hatte sich sehr schnell in ihrem Zimmer verschanzt. Wahrscheinlich schmollte sie nur, weil er etwas geschenkt bekommen hatte und sie nicht. Soll sie, dachte er. Das Buch erschien ihm jetzt wie eine Bestechung - es sollte ihn vergessen lassen, wie sehr ihm sein Vater fehlte. Er hatte keine Lust mehr, es zu lesen. Unbarmherzig warf er es durch das Zimmer und sah zu, wie es eine Bruchlandung neben dem Papierkorb machte. Der Einband knickte um wie ein gebrochener Flügel, etliche Seiten verknitterten. Er sah es durch einen Tränenschleier. Wie hatte er so dumm sein können? Er hätte wissen müssen, dass seiner Mutter nicht zu trauen war. Sie interessierte sich nur für eines; für ihre Arbeit und ihre Karriere.
In Wirklichkeit war alles wie immer.
Blake konnte die zweite Nacht nicht schlafen. Mit verschränkten Armen saß er auf seinem Bett und grübelte vor sich hin.
Regen schlug gegen das Fenster, und Blake sah zu, wie die vom Sturm gepeitschten Bäume schwankten und wild mit den Ästen gestikulierten. Jeder Windstoß jagte eine Flut von Blättern über die Straße. Formlose Schatten huschten über die Wände, über die Zimmerdecke und ab und zu über Blakes Gesicht. Über seine Wangen iefen Tränen.
Mitternacht war vorbei. Vor einer Stunde hatte er gehört, wie seine Mutter leise über den oberen Flur zu Ducks Tür gegangen war, wie sie sie kurz geöffnet hatte, und wie sie dann zu seiner Tür gekommen war. Im Geist hatte Blake ihre Bewegungen verfolgt. Er spürte, wie sie auf der anderen Seite der Tür stand, wenige Meter nur entfernt, und doch lag eine ganze Welt zwischen ihnen.
Geh weg!, hätte er am liebsten geschrien. Er wollte nicht, dass sie hereinkam, und gleichzeitig wollte er es doch. Er sehnte sich danach, dass sie nach ihm schaute, dass sie ihn tröstete und fest zudeckte wie einen kleinen Jungen. Schließlich aber hatte sich die Mutter in ihr Zimmer zurückgezogen, und er fühlte sich verlassener und unglücklicher als vorher.
Einen ähnlich schlimmen Tag hatte es nur einmal gegeben. Das war der Tag des Großen Streits. Es war ein Freitag gewesen, der Beginn eines langen Wochenendes, das er herrlich faul hatte verbringen wollen. Aber als er nach Hause kam, standen seine Eltern in der Küche, böse und einander wütend anfunkelnd. Er hatte die unausgesprochene Feindseligkeit zwischen ihnen in der Luft gespürt - wie einen Sturm, der jeden Moment ausbrechen konnte.
Und dann, urplötzlich, war es passiert.
Mit schriller, sich überschlagender Stimme hatte die Mutter den Vater angebrüllt, hatte ihm aus weit aufgerissenem Mund hässliche Ausdrücke ins Gesicht gespuckt, Wörter, wie sie Blake noch nie gehört hatte. Anschuldigungen waren durch den Raum geflogen wie Kugeln, waren von den Wänden abgeprallt und auf den Möbeln liegen geblieben. Seine Schwester und er hatten sich geduckt. Die Luft war ihnen dünn wie Glas vorgekommen. Zerbrechlich.
Viele von Blakes Freunden hatten nur einen Elternteil, und an diesem Freitag hatte er sich gefragt, ob nun auch für seine Eltern der Tag X
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