Endymion Spring - Die Macht des geheimen Buches
zusammengeheftet, das dem Anschein nach ungeheuer schwer, in Wirklichkeit aber erstaunlich leicht war. Es wurde bewacht von neuen Krallenschließen und war mit gezackten silbrig grünen Schuppen gepanzert. Fust war beeindruckt von dem Wandel, konnte sich aber die plötzliche Veränderung nicht erklären. Er ahnte nichts von meinem baldigen Aufbruch. Auch verstand er immer noch nicht in dem magischen Buch zu lesen. Beginnende Geschichten endeten für ihn mitten im Satz - es war, als habe er einen Zaubertrank vor sich, dem zur Entfaltung seiner vollen Wirkung die entscheidenden Zutaten fehlten. Alle Türen der Erkenntnis blieben ihm verschlossen, wenigstens so lange, bis er entdecken würde, dass ich die fehlenden Seiten in meiner Werkzeugtasche hatte. Und das konnte nur eine Frage der Zeit sein.
Peter starrte in die Truhe, während draußen unter den offenen Fenstern der Lärm der Menge brandete.
»Ich wünschte, es gäbe eine andere Möglichkeit«, murmelte er seufzend. Er nahm das wunderbare Buch aus Drachenhaut und schnallte es in einen behelfsmäßigen Gurt, den er auf meinem Rücken befestigt hatte. Jetzt sah ich noch buckliger aus als vorher. Die Werkzeugtasche, von deren Inhalt nicht einmal Peter wusste, verbarg ich unter meinem Gürtel.
Er wich meinem Blick aus, band mir entschlossen und planvoll die Riemen um den Körper und bedeckte zuletzt alles mit dem groben gelben Kittel. Seine Gedanken behielt er bei sich, als wären Worte ein Zeichen der Schwäche.
Ich versuchte mir Fusts Gesicht auszumalen, wenn er wieder in die Truhe schauen würde und die Drachenhaut nicht mehr da war. Dann würde sein Zorn grenzenlos sein. Ich zitterte bei dem bloßen Gedanken. Würde er mich auf seiner Suche nach dem Buch bis ans Ende der Welt verfolgen? Würde ich je nach Mainz zurückkehren können?
Meine Knie gaben nach, und Peter musste mich stützen.
»Bist du fertig?«, fragte er und warf mir ein trauriges Lächeln zu - brüderlich wie nie zuvor. Bevor ich reagieren konnte, zog er mir die Kapuze über den Kopf, damit ich nicht mehr zur Seite, sondern nur noch geradeaus sehen konnte. Vielleicht dachte er, so würde ich die Tränen in seinen Augen nicht sehen.
Aber ich sah sie.
Wir waren verblüfft, als uns auf der Straße plötzlich Christina entgegengestürmt kam. Ihr fliegendes Haar verriet ihre Verzweiflung.
»Mein Vater weiß alles!«, rief sie über die Köpfe der lärmenden Menge hinweg. »Ich wollte es ihm nicht sagen. Ich habe alles versucht, aber er weiß es! Er ist schon auf dem Weg!«
Sie drängte sich durch eine Gruppe Tänzer. Peter hatte sie damit betraut, Fust abzulenken, während wir alles für meinen Aufbruch vorbereiteten, aber der Mann war immer auf der Hut und hatte ihr schließlich die Wahrheit entrissen. Seine Hinterhältigkeit und sein Misstrauen kannten keine Grenzen. Schon tauchte er am anderen Ende der Straße auf und bahnte sich einen Weg durch die Menge.
Mein Herz hämmerte. Verzweifelt blickte ich nach rechts und links und suchte nach einer Fluchtmöglichkeit, aber meine Beine waren wie aus Watte. Körper zwängten uns ein. Und über dem Getöse der Menge gellte Fusts unverkennbare Stimme: »Ein Dieb! Haltet den Dieb!«
»Schnell, schnell! Wir haben keine Zeit mehr!«, schrie Christina. »Du musst fort!« Sie hob ihre Röcke an, um die Menschen zur Seite zu scheuchen - und brachte sie damit nur noch mehr außer Rand und Band.
Zum Glück hatte Peter einen Plan. Er packte mich am Arm und schob mich durch ein Knäuel ausgelassener Leute.
»Tu, als ob du tanzt! Los, los!«, schrie er, als jetzt die Masken von Königen, Rittern und Narren um uns herumwirbelten. Ich machte einen jämmerlichen Hüpfer — es war mir unmöglich, mich Peters kraftvollen Schritten und Luftsprüngen anzupassen; zwar täuschte ich ein Lächeln vor, aber tief in meinem Inneren war ich kalt und starr vor Schreck. Mein Lächeln war wie das Grinsen eines Totenschädels.
Fust kam schnell näher. Mit seinen beringten Händen schob er die Leute beiseite.
Endlich hatte unser Ablenkungsversuch Erfolg. Als die Menge nämlich die Hauptpersonen der Feierlichkeit, Adam und Eva, herantanzen sah, blieben viele der Feiernden stehen, deuteten mit Fingern auf sie und blickten ihnen entgegen.
»Worauf wartet ihr?«, rief Peter und forderte die Nächststehenden auf, sich der offiziellen Prozession zum Kirchhof anzuschließen. »Los geht's!«
Es war, als erlösten seine Worte die Bürger von Mainz von einem Bann. Unter tosendem
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