Endymion Spring - Die Macht des geheimen Buches
Auf der Seite vor ihm war ein Text erschienen, Wörter, die seine Schwester nicht sehen konnte.
Ihm fiel fast das Buch aus der Hand.
Besonders ein Wort ließ ihn nicht los. Es dröhnte in seinem Kopf wie ein schrecklicher Refrain: Kinderblut, Kinderblut, Kinderblut ... Entweder er oder Duck würde sterben müssen - das sagte ihm sein Gefühl mit so untrüglicher Sicherheit, als wäre Endymion Spring hereingekommen und hätte es ihm ins Ohr geflüstert.
»Stimmt was nicht?«, fragte Duck. »Du schwitzt ja.«
»Es ist nichts«, log er und schüttelte wieder den Kopf, diesmal, um den furchtbaren Gedanken wegzuschieben. »Wir sollten jetzt schlafen gehen.«
Manche Dinge, spürte er, blieben besser unausgesprochen.
Mainz
Frühjahr 1453
uf einmal sprang ein Teufel am Fenster vorbei und tanzte mit wunderlich kreisenden Bewegungen über die Mitte der Straße hin. Peter und ich rannten zur Haustür, um zuzusehen. Der Dämon machte unanständige Bewegungen mit seinem Schwanz und verhöhnte jeden, der ihm nahe kam.Nicht lange, und er war von einer Schar Kinder eingekreist, die anfingen, ihn zu necken. Der Teufel schoss unter ihren ausgestreckten Armen hindurch und floh in Richtung Dom, verfolgt von einem schrillen Ruf- und Pfeifkonzert.
Gleich danach kam eine Prozession aus grässlichen Skeletten mit weiß gepuderten Gesichtern, geschwärzten Augen und aufgemalten Rippen. Langsam schritten sie über die mit Stroh bestreuten Straßen, klopften an jedes Haus und riefen die Lebenden auf, sich im Totenreich einzufinden.
»Kommt mit, kommt alle mit!«, sangen sie, schlugen ihre Stöcke aneinander und tänzelten von Tür zu Tür. »Die Zeit ist heran! Alle werden gerichtet!«
Wie gehorsame Schafe erschienen die Bürger von Mainz vor ihren Fachwerkhäusern, schlossen sich dem Umzug an und strömten alle in dieselbe Richtung: zum Kirchhof hinter der Stadtmauer. Manche hatten sich als Könige und Königinnen herausgeputzt und trugen Prachtgewänder, die sie eigens für diese Gelegenheit genäht hatten, andere verbargen ihre Gesichter hinter Masken und trugen ihre Alltagskleider verkehrt herum. Die Wunderlichsten von ihnen hatten sich Kuhglocken an ihre Hinterteile gebunden und muhten wie die Kühe, während kleinere Kinder Pfannen und Töpfe aneinander schlugen und jubelten - oder weinten. Halbnackte Akrobaten schlugen Purzelbäume die Straße hinauf und hinab, schwenkten Fahnen aus buntem Stoff und mischten ihr Gelächter in den allgemeinen Trubel.
Inzwischen ließen die Musikanten ihre Instrumente hören. Rohrflöten, Bratschen, Lauten und Leiern winselten, zirpten und dröhnten durcheinander, Madrigalsänger mischten sich unter die Menge und sangen aus Leibeskräften:
König, Narr und Arm und Reich, Vor Gottes Antlitz seid ihr gleich. Richter, Papst, Student, Despot, Alle holt am End der Tod. Mönch und Kaufmann, Dieb und Bauer, Alle beugt am End die Trauer. Bereut eure Sünden, zögert nicht, Keiner entgeht dem Jüngsten Gericht.
Die Antwort war ein hundertfaches Schlurfen und Trampeln von Schritten, als sich die Menschenmenge auf ihrem unaufhaltsamen Marsch durch die Stadt langsam in Richtung Kirchhof schob. Das Jüngste Gericht hatte begonnen.
Meister Gutenberg war leise hinter mich getreten.
»Willst du denn nicht mitfeiern?«, fragte er und legte eine Hand auf meine Schulter. »Es soll Unglück bringen, weißt du, wenn man sich nicht am Totentanz beteiligt.«
Ich drehte mich um. Normalerweise hätte ich gelacht über seinen seltsamen Aufzug — er steckte von Kopf bis Fuß in roten und gelben Quadraten wie ein Harlekin —, aber mein Herz war schwer. Ich zog die Schultern hoch. Ich wusste, dass meine Zeit in Mainz unweigerlich zu Ende ging, und eine Rückkehr würde es nicht geben. Für mich war wirklich der letzte Tag gekommen.
Draußen auf der Straße rempelte ein Metzger mit einem Schweinerüssel vor der Stirn eine Dienstmagd an, dann reihte er sich ein in den Totentanz.
»Lasst Arbeit ruhn und allen Tand«, sangen die Madrigalsänger. »Nehmt euren Nachbarn bei der Hand ...«
Die Menschen auf der Straße fassten sich an den Händen, und dann wand sich der Zug wie eine Schlange durch die überfüllte Stadt. Der Totentanz gehörte zu den größten Festereignissen im Frühjahr. Fenster und Türen waren mit leuchtend bunten Blumengirlanden geschmückt, ihr verlockender Duft mischte sich mit den kräftigeren Gerüchen nach gebratenem Fleisch, die aus der Ferne heranwehten. Meister Gutenberg
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