Endzeit
Visionen.« Aus irgendeinem Grund will ich das Kind beim Namen nennen. Ich will schroff sein, ohne Charme und ohne Freundlichkeit. Trotz des Dämmerlichts sehe ich, wie sich die Röte in ihren Wangen vertieft. Vielleicht hat sie jetzt begriffen, dass ich ihr keine wohlwollenden oder schwesterlichen Gefühle entgegenbringe. »Bethany spricht von Visionen. Nur damit Sie Bescheid wissen.« Wie sehr doch Empiriker – zu denen ich mich zähle – alles verachten, was nach Übernatürlichem schmeckt, nach manipulativen Fernsehserien, nach billigem Ob-Sie-es-glauben-oder-nicht, nach reißerischem Unglaublich-aber-wahr.
»Tut mir leid, wenn ich euch unterbreche, aber ich muss jetzt die Jalousien schließen«, sagt Ned ruhig. »Dann kann ich euch die Bilder zeigen.« Wir nicken zerstreut, es wird dunkel.
»Es ist nicht mein Fachgebiet. Daher kann ich mir nicht anmaßen, etwas zur Genese dieser, hm …«, sie ersetzt den Begriff »Visionen« durch eine elegante Handbewegung, die etwas Ephemeres, den Schläfen Entfleuchendes andeutet. »Aber was die tatsächlichen
Abbildungen
betrifft …«
»Kristin will sagen, dass wir weitere Informationen benötigen, um den Ort der möglichen Katastrophe zu bestimmen«, sagt Ned und klickt mit der Maus. »Sehen Sie sich das mal an.« Auf dem |265| Bettlaken erscheint eine von Bethanys Zeichnungen. Er stellt den Kontrast ein. »Auf den Bildern gibt es eine Menge Einzelheiten. Einzelheiten, die man nur bemerkt, wenn man sich mit der Mechanik von Bohrinseln auskennt.« Er deutet auf die Plattform und die Linie, die von ihr aus nach unten ins Meer führt. »Bilder wie dieses lassen uns befürchten, dass sie die Anfänge eines Unterwasser-Erdrutsches sieht, der durch Aktivitäten auf einer Bohrinsel ausgelöst wird. Wir wissen aber nicht, auf welcher. Sie haben jeweils ziemlich charakteristische Eigenschaften.« Er wirft mir einen belustigten Blick zu. »Die Leute, die die Vorkommen entdecken, dürfen ihnen einen Namen geben. Die meisten sind ziemlich phantasievoll.«
Kristin steht auf. »Ich hole Frazer. Er sollte dabei sein.« Endlich ist der Groschen gefallen. Gut so.
»Sie waren ziemlich unfreundlich zu ihr«, sagt Ned. »Viel unfreundlicher als zu mir. Dabei war ich derjenige, der Bethany gekidnappt hat.«
Ich antworte nicht. Wenn er blind und blöd ist, kann ich ihm auch nicht helfen.
Während Ned Rappaport durch eine Reihe von Bildern scrollt, verändere ich die Position meiner Beine. Ich brauche meine ganze Kraft, um dem Physiker erneut ins Gesicht zu sehen.
»So. Hier haben wir alle küstennahen Bohrinseln, die unseres Wissens bereits mit Methan experimentieren. Hinzu kommen weitere zehn, die unserer Vermutung nach von der Öl- oder Gasförderung auf Methan umgestellt werden.« Ein Klick, und die Leinwand füllt sich mit einem Flickwerk aus Fotos von Bohrinseln mit Gerüsten und Bohrtürmen, die aus dem Meer emporragen: düstere Konstruktionen aus Eisen und Beton, umtost von stürmischen Wellen, mit Schnee bedeckt oder im Sonnenlicht, das sich in türkisblauen tropischen Gewässern spiegelt. Es sieht aus, als wären sie weit von den Küsten entfernt. »Die Bohrtürme bestehen aus blankem Metall, aber wie Sie erkennen werden, gibt es Hebekräne in allen Farben. Genau wie an Land. Wie man mir |266| sagte, ist derjenige, den wir suchen, gelb …« Er lässt den Flickenteppich auf einige Bilder zusammenschrumpfen. Auf jedem ist ein kanariengelber Kran zu sehen, manche neu, an anderen blättert die Farbe ab. »Von diesen acht Kränen befinden sich drei vor den Küsten von China, Indien und Neuseeland. Allerdings wurden sie wegen Wartungsarbeiten geschlossen. Einer der russischen war im letzten Jahr überhaupt nicht in Betrieb. Bleiben also vier Verdächtige.« Er klickt erneut und viertelt die Leinwand. »Buried Hope Alpha in der Nordsee, Mirage in indonesischen Gewässern, Lost World in der Karibik und Endgame Beta vor der sibirischen Küste. Aus verschiedenen Gründen, die mit chronischer Misswirtschaft zu tun haben, tippe ich auf Endgame Beta.«
Frazer Melville und Kristin Jonsdottir kommen ins Zimmer, wobei sie sich angeregt unterhalten.
»Glück gehabt mit Harish?«, fragt Ned. Sie schauen sich an und treffen gemeinsam eine Entscheidung.
»Etwas. Aber wir sollten zuerst Gabrielle informieren«, sagt Frazer Melville.
Er und Kristin Jonsdottir umzingeln mich, indem er sich auf die Kante der Chaiselongue und sie sich auf einen Stuhl zu meiner Linken setzt. So
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