Endzeit
nicht länger im Mittelpunkt steht.
»Verstehe. Das ist nicht gut«, sagt Harish Modak. Er scheint jetzt so betroffen wie alle anderen.
»Ich hab’s doch gesagt«, bemerkt Bethany leichthin. Wir schauen sie an. »Ich hab immer gesagt, dass es in der Nähe passiert. Dass wir alle ertrinken. Das habe ich die ganze Zeit gesagt. Aber keiner hat mir zugehört. So geht das schon mein ganzes beschissenes Leben lang.«
»Könnte mir das bitte jemand erklären?«, erkundige ich mich. Frazer Melville nimmt die Hände von seinem erschöpften Gesicht. |296| »Hast du schon mal von der Storegga-Rutschungsmasse gehört?« Ich schüttle den Kopf, kann ihn noch immer nicht ansehen. Es ist alles zu schrecklich, zu qualvoll. Ich will hier weg und nie wieder zurückkommen. »Dabei handelt es sich um eine massive Ansammlung von Sand und Geröll vor dem Kontinentalschelf, die sich auf einer Breite von achthundert Kilometern von Norwegen bis Grönland erstreckt, das Ergebnis der größten submarinen Rutschung, von der wir wissen. Sie ereignete sich vor etwa achttausend Jahren und löste einen gewaltigen Tsunami aus, der die britischen Inseln größtenteils überflutete. Und diese Bohrinsel steht an der Kante der Storegga-Rutschung.«
Dann kann er nicht weitersprechen.
Wenn ich ihn liebte, würde er mir leidtun. Ich würde ihn in die Arme nehmen und auf die Wange küssen wollen. Ich schaue zu Kristin Jonsdottir. Sie scheint ganz mit sich beschäftigt. Ihre zarten Augen wirken glasig und verstört.
Harish Modak räuspert sich und nimmt den Faden wieder auf. »Miss Fox, wie es scheint, sehen wir uns der interessanten Möglichkeit einer Katastrophe gegenüber, die einen lokalen Ursprung hat. Ein gewaltiger unterseeischer Abbruch irgendwo in der Storegga-Region wird einen Tsunami auslösen, der das gesamte Gebiet vernichtet. Die norwegische Küste liegt am nächsten, aber das Sedimentpaket wird das Wasser zunächst in die andere Richtung drängen, nach Westen. Damit würde Ihr Land als Erstes getroffen. Durch die Flussmündungen und den Trichter der Deutschen Bucht wird der Tsunami noch verstärkt.« Die Stille klafft wie ein Riss, als hätten die Luftmoleküle eine neue Form angenommen und jedes Geräusch aufgesogen. »Als Nächstes werden Norwegen und Dänemark getroffen, dann das übrige Nordeuropa. Der Tsunami wird sicherlich Island erreichen und, falls er groß genug ist, auch die Vereinigten Staaten.«
»Und das Datum?«, fragt Frazer Melville. Sein Atem geht stoßweise. »Bethany, bist du dir immer noch sicher wegen des Datums?«
|297| »Das Kommen des Drachen und des falschen Propheten! Die Schlacht von Armageddon!«, gluckst Bethany und zieht die Schale einer Litschi ab.
»Bethany«, sage ich mit zugeschnürter Kehle. »Du hast vom 12. Oktober gesprochen.«
Sie wühlt in den Falten des karierten Bademantels nach einem heruntergefallenen Stückchen Schale. »Ach ja? Weiß ich gar nicht mehr. Vielleicht auch früher. Es gibt ein Gewitter. Danach passiert es. Aber diese Sache ist anders als alles andere.« Sie hat die Schale gefunden und schnippt sie durch den Raum, bevor sie sich wieder der Frucht widmet.
»Miss Krall hat schon öfter recht gehabt«, sagt Harish Modak und schaut Bethany durchdringend an. »Gehen wir einfach mal davon aus, dass sie auch diesmal recht hat.«
»Das wissen Sie ganz genau«, murmelt Bethany und hält die perlweiße Litschi ans Licht. »Die Dinger sehen aus wie Augäpfel.«
Eine Zeit lang herrscht nachdenkliche Stille, nur unterbrochen von Bethanys tonlosem Summen. Dann endlich sagt Kristin: »Harish, heute ist der 10. Sie müssen uns helfen.«
Er dreht sich zu ihr um, als hätte er Schmerzen. »Ich muss? Müssen ist ein interessantes Wort. Es stimmt mich immer misstrauisch.« Bethany hört gespannt zu.
Kristin geht in die Luft. »Sie wollen doch nicht sagen, dass Sie den ganzen Weg …«
»Meine liebe Kristin. Sie kennen mich doch. Daher wissen Sie auch, welche Frage ich stellen werde. Die gleiche Frage, die ich mein halbes Leben lang gestellt habe. Was ist der Sinn?« Kristin schaut Frazer Melville entmutigt an, dann mich. Harish lächelt. Bethany nickt lebhaft, als wollte sie ihn antreiben. »Was ist der Sinn, wenn die Welt, die nach dieser Katastrophe zurückbleibt, nicht wiederzuerkennen ist?«
»Schon mal was von moralischer Verpflichtung gehört?« Ned spricht ruhig, wirkt aber gewaltbereit. »Schon mal was von unterlassener |298| Hilfeleistung gehört?« Er springt auf und
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