Endzeit
den Mainstream gefunden. Ich habe genügend vernachlässigte und misshandelte Kinder gesehen, um das »Recht auf Kinder« anzuzweifeln. Krankheit ist jedoch eine andere Sache.
Krankheiten wie Malaria
. Krankheiten, die Ausländer bekommen.
Während ich vorsichtig einatme und über die interessante Entwicklung, die das Wort »organisch« genommen hat, nachdenke, manövriere ich mich vom Sofa in den Rollstuhl. Das nächste Wochenende als Einzelmensch naht, und ich muss es irgendwie ausfüllen.
In meinem neuen Leben als tragische Königin besitze ich einen klassischen superleichten Rollstuhl, der sich zusammengeklappt im Auto verstauen lässt und den ich an diesem Nachmittag benutze, um durch die Fußgängerzone von Hadport zu rollen – vorbei an den winzigen Läden, in denen man Kerzen, Windspiele, Horoskopschmuck und aufwendig verpackte Seife kaufen kann, dann weiter in die schäbigeren Nebenstraßen mit ihren Kebab-Buden und Zeitungsläden, vorbei am Kino, dem Sportzentrum, der vogeldreckbespritzten Statue von Margaret Thatcher und dem älteren New Ager mit dem Pferdeschwanz, der flauschige Marionetten-Würmchen an langen Fäden verkauft. Heute ist Markttag mit frischem Fisch und reifem Obst. Der Geruch von Makrelen, Käse und kandierten Erdnüssen vermischt sich mit der |46| salzigen Meeresluft und dem Geruch warmer Algen. Nach Wolkenbruch und Sturm ist die Sonne wieder da, eine unerbittliche feurige Kugel. Die Hitze ist aggressiv wie ein Föhn, der sich nicht abschalten lässt. In der flirrenden Luft glitzern die Oberflächen. Alle Leute tragen Sonnenbrillen. Ich weiß nicht, wann ich zuletzt irgendjemandes Augen bei Tageslicht gesehen habe. Oder wann ich meine zuletzt gezeigt habe.
Ich steuere ein Café an, das ich kürzlich entdeckt habe und aufgrund dreier entscheidender Vorteile regelmäßig aufsuche: wegen der Behindertentoilette, des Meerblicks und des guten Kaffees. Ich setze mich an einen Ecktisch am Fenster und lese Bethany Kralls Patientenakte. Der erste Teil stammt von Dr. Ehmet und führt die Medikamente auf, die sie im Laufe der Monate erhalten hat, bevor Cotard-Syndrom und Elektrokonvulsionstherapie ins Spiel kamen. Neuroleptika und Antidepressiva, dazu Medikamente gegen die Nebenwirkungen: Prozac, Cipramil, Lustral, Risperdal, Zyprexa, Trazodon, Effexor, Zoloft, Tegretol. Der nächste Teil stammt von Hamish Bates, einem Therapeuten, der zwei Monate mit ihr gearbeitet hat und dann in den Privatsektor gewechselt ist. Nach seiner Aussage befreite die EKT »sie von der Vorstellung, tot zu sein, löste aber eine intensive Beschäftigung mit Klimawandel, chemischer Umweltverschmutzung, Wettermustern, geologischen Störungen und Weltuntergangsszenarien aus«. Er interessiert sich für Bethanys häufige Anspielungen auf die Entrückung, »eine Vorstellung, die bei den Untergangsdiskussionen der
Glaubenswelle
eine große Rolle spielt und die mit dem Glauben zusammenhängt, der Messias werde nach einer siebenjährigen Periode der ›Trübsal‹ oder ›Endzeit‹ wiederkehren, in der Gott die Menschheit mit Plagen, Überflutungen, Feuer und Schwefel für ihre Sünden straft. Angesichts der Ausweitung des Krieges im Nahen Osten und der Angst vor biologischen Waffen, die den kulturellen Nerv weiter bloßlegen, überrascht es nicht, dass eine Vorstellung wie die der Entrückung neuen Zulauf findet«. Nachdem Hamish Bates brav gegoogelt und fünf Jahre alte |47| Kommentare aus dem
Guardian
recycelt hat, wird er im letzten Absatz philosophisch und spekuliert darüber, Bethanys wiederkehrende Themen seien »klassische Metaphern für den Aufruhr der Psyche, naheliegend aufgrund der geologischen Katastrophen und meteorologischen Kapriolen unserer Zeit: Häufungen von Katastrophen, die förmlich danach schreien, zu einem Muster zusammengefügt zu werden, sei es nun die beschleunigte Klimaerwärmung oder die göttliche Vergeltung für die Sünden der Menschheit«.
Bates mag nicht sonderlich originell sein, doch ich stimme seinem Urteil zu. Bethanys Schmerz hat die Form des Planeten, ist wahrhaft global: Sie erlebt ihre eigenen, lebhaft eingebildeten Erdbeben und Hurrikans, ihre eigenen Vulkanausbrüche, ihren eigenen Klimawandel, ihre eigene Form der Polschmelze.
An den Wochenenden tummeln sich zu viele Kinder im Schwimmbad. Daher verbringe ich den Rest des Tages und den Sonntag zu Hause mit dem Ventilator und suche im Netz nach Informationen über Elektrokonvulsionstherapie und die neuesten Rollstühle, die
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