Endzeit
ich mir nicht leisten kann. Danach widme ich mich einem Thema, das mir seit der Fernsehdebatte über die hitzebedingte menschliche Auslese nicht mehr aus dem Kopf geht. Obwohl er sich öffentlich von den ärgsten Auswüchsen distanziert, gilt der in Kalkutta geborene und in Paris lebende Harish Modak als geistiger Führer der Planetarier-Bewegung. Er ist Geologe und ein ehemaliger Kollege des verstorbenen James Lovelock, der die Vorstellung von der Erde als Gaia begründete, eines sich selbst regulierenden Organismus mit eigener »Geophysiologie«. Ich überfliege Modaks jüngsten Artikel aus der
Washington Post
. Für ihn zeugt die Annahme, die Menschheit werde ewig existieren, von einer »kolossalen Arroganz«. Würden wir das Leben auf dem Planeten über Jahrmilliarden hinweg betrachten und nicht nur die lächerliche Zeitspanne, in der die Spezies Mensch dominiert, würden wir erkennen, dass unsere Gegenwart auf Erden nur ein kurzer Augenblick ist. »Wir führen unsere eigene Vernichtung herbei |48| – und wenn wir verschwunden sind, ausgelöscht durch unser eigenes rücksichtsloses Expansionsstreben, wird der Planet nicht um uns trauern. Im Gegenteil, er wird Grund zur Freude haben. Heute steht die menschliche Spezies am Rande der Auslöschung, die vielleicht nicht zu ihrem gänzlichen Verschwinden, wohl aber zu extremer Bedeutungslosigkeit führen wird.« Modak verweist auf Klimamodelle, die diese Annahme stützen, und zaubert die berühmte Rechnung hervor, nach der eine Erwärmung um weitere drei Grad zwangsläufig zu vier, fünf und sogar sechs Grad führen wird. »Der chinesische Fluch ›Mögest du in interessanten Zeiten leben‹ gilt für uns im einundzwanzigsten Jahrhundert mehr denn je«, schließt Modak. Ich mag seinen Bombast. Vermutlich würde er es nicht gern hören, aber seine Ansichten haben sowohl christliche als auch hinduistische Züge. »Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit ist die bereits erkennbare Zerstörung von globalem Ausmaß. In der Vergangenheit betrachtete man Kinder und Enkel als einen Segen, ein Zeichen des Glaubens an die Zukunft des Genpools. Heutzutage aber scheint es am gnädigsten, wenn unsere Enkelkinder gar nicht erst gezeugt werden.«
Obwohl konservativer und gemäßigter als der Planetarier im Fernsehen, scheint Modak unterschwellig anzudeuten, dass Pessimismus der neue Realismus ist. Ich zweifle nicht an seinen Prognosen, Zahlen und Diagrammen. Seine Schlussfolgerungen deprimieren mich trotzdem.
Einmal im Jahr findet in Hadport die britische Schachmeisterschaft statt. Schachspieler sind berüchtigt für ihren grauenhaften Modegeschmack und ihren fehlenden Orientierungssinn. Vor einer Woche fiel mir zum ersten Mal die Frau mit den karottenroten Haaren auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf. Mitte vierzig, schlecht gekleidet, unordentlich. Zuerst hielt ich sie für ein Mitglied dieses seltsamen Stammes, das nach einer verlorenen Partie in Hadport gestrandet war. Sie schien nicht dorthin zu gehören. Dann verwarf ich die Idee, weil sie mit leeren Händen dastand. Jede Frau, ob Schachspielerin oder nicht, hat eine |49| Tasche bei sich. Das Fehlen dieses Accessoires brachte mich auf den Gedanken, sie könnte vielleicht doch eine Einheimische sein: eine Nachbarin, die ausnahmsweise ohne Tasche einkaufen geht. Oder eine Verrückte. Eine Frau ohne Tasche sieht manchmal auf obszöne Weise nackt aus. Ihrer Weiblichkeit beraubt. Es gibt immer mehr verstörte Menschen, jede Kleinstadt hat ihre ziellosen Exzentriker, die sich einfach treiben lassen.
Als ich später am Nachmittag aus dem Café nach Hause komme, sehe ich die Frau erneut. Sie steht mit hängenden Armen auf dem Gehweg gegenüber meiner Wohnung. Sie trägt ein T-Shirt und eine Leinenhose. Ich spüre, dass sie mich beobachtet, schaue sie aber nicht direkt an. Sie rührt sich nicht von der Stelle, während ich mich aus dem Wagen manövriere. Drinnen sehe ich aus dem Fenster. Sie steht noch immer reglos da, eine Schaufensterpuppe, die Wache hält.
Ich schließe die Jalousie, doch es gelingt mir nicht, sie aus meinen Gedanken zu vertreiben. Sie hat es geschafft, mich zu beunruhigen, ob sie es nun auf mich abgesehen hat oder nicht.
In dieser Nacht kann ich nicht einschlafen und denke nach. Ich komme zu dem Schluss, dass Harish Modak recht hat, dass Menschen von Natur aus kurzfristig denken und nur politische Visionen mit Weitblick den Schaden an der Biosphäre begrenzen können. Ein Teil von mir – jener
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