Endzeit
nur wollen. Zu vergessen, was Bethany über Dinge gesagt hat, von denen sie gar nichts wissen kann, ist eine Ermessensentscheidung. Ich weiß genau, was ich tue. Bis ich am Aufzug bin, habe ich den Augenblick aus meinem Gedächtnis und meinem Leben entsorgt wie Giftmüll in einem Abfallschacht.
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Mein neues Zuhause ist minimalistisch. Früher waren mir Dinge wie hübsche Kissen wichtig. Kissen, die zum Sofa passten und vielleicht auch zu den Vorhängen, Kissen, die irgendwann auf dem Boden landeten, wenn ich und ein gewisser Pokerspieler zur Sache kamen, hemmungslos, vor einem winterlichen Kaminfeuer. Seit meine Welt jedoch über Nacht neu vermessen wurde, habe ich mit Inneneinrichtung nicht mehr viel im Sinn, und das einzige Kissen, an dem mir liegt, hat eine Gelfüllung und befindet sich unter meinem Hintern, um Druckstellen zu vermeiden. Einrichtungsmäßig interessiere ich mich für Rampen, behindertengerechte Duschen und Arbeitsplatten mit der richtigen Höhe sowie die Frage, wie ich Zuschüsse für weitere Innovationen bei der Stadt beantrage. Dank des Unglücks, das einen anderen ereilt hat, konnte ich kurzfristig eine bereits rollstuhlgerechte Erdgeschosswohnung mit separatem Eingang in Hadport übernehmen. Mir ist klar, dass ich damit in der Welt der Behinderten das große Los gezogen habe, und ich bin entsprechend dankbar. Aber ich spüre auch ein gewisses Unbehagen. Der frühere Bewohner, ein junger Typ namens Mikey, war an allen Gliedmaßen gelähmt und fiel plötzlichen »Komplikationen« zum Opfer. Der Verlust seiner Familie war mein Gewinn. Die Eigentümerin, Mrs. Zarnac, inserierte die Wohnung auf einer Internetseite für Menschen mit Wirbelsäulenverletzungen. Ich bin nicht abergläubisch, habe aber darauf verzichtet, mich nach den Komplikationen zu erkundigen oder in welchem Zimmer er gestorben ist oder wie viele Stunden vergingen, bevor die Pflegekraft ihn fand.
Die Wohnung liegt im alten Teil von Hadport. Von Mrs. Zarnac, |42| die über mir wohnt, bekomme ich nicht viel mit. Sie erhält ab und zu Besuch von einsam aussehenden älteren Männern, und wenn sie für sie kocht, weht ein verdächtiger Essiggeruch zu mir herunter. Ich denke flüchtig, dass sie sie vielleicht für irgendein schauriges Einbalsamierungsprojekt bei lebendigem Leibe sauer einlegt. Aus Trotz und als widernatürlichen Trost habe ich einen Druck von Frida Kahlo gekauft, der an der Wand lehnt, weil ich ihn nicht aufhängen kann.
Autorretrato con collar de espinas:
Selbstbildnis mit Dornenhalsband. Vor einem Hintergrund aus Dschungellaub starrt Kahlo ausdruckslos unter der einzelnen Augenbraue hervor, die sie aus ästhetisch unerklärlichen Gründen nicht zu den üblichen zwei Brauen zurechtgezupft hat. Das Bild zeigt Kopf und Schultern, nicht aber den Rollstuhl. Über ihre linke Schulter späht eine schwarze Katze mit wilden Augen und angelegten Ohren, bereit zum Sprung auf einen toten Kolibri, der mit ausgebreiteten Flügeln von dem Dornengestrüpp um Kahlos Hals hängt. In der mexikanischen Folklore bedeutet dieser Vogel Glück oder Liebe. Rechts von ihr sitzt ein Affe, ein Geschenk ihres krankhaft untreuen Ehemannes Diego, und beschäftigt sich mit seinen Händen. Dieselbe Folklore besagt auch, dieses Geschöpf sei ein Symbol des Teufels. Zwei Libellen und zwei Schmetterlinge tanzen über ihrem Kopf. Ich nehme an, sie verkörpern die Phantasie und stehen für die Freiheit, die sie bietet. Ich liege oft auf dem Bett und versuche, die leidenschaftliche, gestörte Frida, die gezwungen war, sich selbst in einen Schrein des Schmerzes zu verwandeln, einer Psychoanalyse zu unterziehen. Sie malte ihre eigene komplexe Folter wieder und wieder, geradezu besessen, in verschiedenen Variationen, viele davon makaber: die Künstlerin, die an Maschinen gekettet ist, von Nägeln durchbohrt, umgeben von Gläsern mit Föten, eingezwängt in ein orthopädisches Korsett, als Hirsch, aus dem Pfeile ragen. Sie ist ein furchtbares Rollenmuster. Ich selbst bin eine Petrischale, in der Manien wuchern, viele davon giftig wie jene, die durch Kahlos Kopf schwirrten. Stundenlang ergehe ich mich in der Vorstellung, die medizinische |43| Technik werde sich weiterentwickeln und mir mittels einer hypermodernen, semi-bionischen Methode das Gehen ermöglichen.
In Wirklichkeit aber gibt es immer noch Momente, in denen ich einfach nur sterben will.
In der Diele hängt ein anderes Bild von Kahlo:
Cuando te tengo a ti, vida, cuanto te quiero.
Das
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