Endzeit
Geist zwischen uns, doch Bethany beißt nicht an. »Du bist jetzt seit zwei Jahren in Oxsmith. Aber begreifst du auch, weshalb du hier bist?«
Sie lacht freudlos. »Ich bin hier, weil Leute wie Sie nicht sehen wollen, was passiert, selbst wenn es ihnen ins Gesicht springt. Es ist viel einfacher, mich wegzusperren, als mir zuzuhören.« Jetzt gerät sie in Wut. »Sie tun so, als würde das alles nicht passieren, nur weil Sie’s nicht glauben möchten, und wenn Sie es endlich glauben, ist es verdammt noch mal zu spät. Der Tornado in Schottland. Ach, das war ja nur ein Glückstreffer. Bitte, wie Sie wollen. Aber ich habe ihn gesehen. Und dann kam er.«
»Wie du schon sagtest, ein Glückstreffer.« Ich sehe das blutige Gesicht von Karen Krall: wächsern, wie das einer geschmolzenen Puppe. Ich frage mich unwillkürlich, welche Kraft nötig war, um den Schraubenzieher derart in ihre Augenhöhle zu stoßen. |71| Welches Geräusch dabei entstanden ist. »Wie stellst du dir deine Zukunft vor?«, frage ich, um mich davon abzulenken.
»Sie meinen, ob ich Oxsmith eines Tages verlassen möchte? In die
Gemeinschaft
entlassen werden? Heiraten, Mutter werden, ein normales Leben führen – lauter Dinge, die kleine Mädchen sich angeblich wünschen?«
»Kleine Mädchen?«
»Lassen Sie doch den Scheiß. Ich meine die hirnlosen Teenager in ihren hirnlosen Gesprächsgruppen, die über ihre hirnlosen Freunde und ihren hirnlosen Sex und ihre crackbedröhnten zurückgebliebenen Babys sprechen.«
»Vergiss jetzt mal die Ambitionen der anderen Mädchen, wie immer sie auch aussehen mögen. Was möchtest
du
, Bethany?«
Sie hält inne, und wir betrachten gemeinsam die Wand aus roten Kletterpflanzen. »Wenn ich ein Baby hätte, würde ich es Felix nennen. Das heißt doch glücklich, oder? Der Name wäre irgendwie ironisch.« Ich warte ab und denke: Ich habe mir immer Max als Namen vorgestellt. »Aber ich werde kein Baby bekommen.« Ich auch nicht. Sie sagten, ich sei fast gestorben, man habe »nichts retten können«.
Nichts:
ein interessanter Euphemismus. Kein Max. Nicht jetzt, niemals.
»Woher willst du wissen, dass du niemals Kinder haben wirst?«
»Wozu denn, wenn die Welt so am Arsch ist? Das wäre ziemlich sadistisch.« Harish Modak und die Planetarier wären ganz ihrer Meinung, das ist genau ihre Hymne.
»Mir fallen eine Million Gründe ein«, sage ich. Ein blöder Reflex, denn wenn es darauf ankäme, könnte ich vermutlich keinen einzigen nennen. Aber Bethanys innerer Wirbelsturm ist weitergezogen. Sie hat sich vorgebeugt, ich spüre ihren Atem im Nacken. So bedroht sie mich am liebsten.
»Nur Sie können mir hier raushelfen, Roller«, flüstert sie und kommt so nah, dass ihr Mund mein Haar berührt. Ihre kindliche, heisere Stimme bohrt sich tief in mich hinein, hartnäckig wie ein exotischer Parasit. »Ich würde sagen, es kommt darauf an, wie gut |72| Sie in Ihrem sogenannten Job sind.« Ein vertrauter schmerzhafter Stich wandert von meinem zerstörten neunten Rückenwirbel in den Hals hinauf. Ich erschauere, sodass er verschwindet, und verlagere mein Gewicht im Stuhl. In den vergangenen zwei Jahren habe ich gelernt, dass eine Körperhälfte tot und die andere ungeheuer, geradezu boshaft lebendig sein kann. »Joy McConey hatte neun von zehn Sternen, aber auch das hat letztlich nicht gereicht. Sie hatte nicht den Mumm. Jetzt muss sie dafür bezahlen. Aber vielleicht sind Sie ja diejenige, welche. Haben Sie schon mal daran gedacht, dass Sie vielleicht aus einem bestimmten Grund hier sind?«
»Will heißen?«
»Will heißen – helfen Sie mir nun, von hier wegzukommen, oder nicht?«
Ich schaue wieder auf die triumphierende, blutrote Wand. Eine Windböe lässt sie erzittern, und brüchige Blätter regnen herab. Ich antworte nicht, drehe mich nur um und schaue Bethany an. Ihr Blick wirkt fern und verträumt, als betrachte sie etwas jenseits des Horizonts oder in einem Paralleluniversum.
»Morgen zieht ein Gewitter auf. Von Westen. Ich mag Gewitter von Westen. Hey, soll ich Ihnen mal was sagen? Ich schaue es mir von der Kreativwerkstatt aus an.« Sie hält inne. »Das sagen Sie nie, oder? Zu geschraubt, was?« Ich unterdrücke ein Lächeln. »Von dort hat man eine gute Aussicht. Wir könnten es uns gemütlich machen, Roller, mit Popcorn und Cola, wie im Kino.« Sie macht eine Pause, und ich spüre förmlich ihr Grinsen. »Sie könnten so tun, als wären Sie meine Mama.«
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Auf dem Nachhauseweg lege ich einen
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