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Endzeit

Endzeit

Titel: Endzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Jensen
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Fernsehen gesehen? Sie breiten die Arme aus und springen ins Meer. Wie Jesus.«
    »Würdest du dich als gläubig bezeichnen?«
    »Nein.«
    »Du warst es aber. Die Kirche, zu der du gehört hast   …«
    »Seine Kirche. Nicht meine.« Sie deutet auf ihre Schläfen. »Sehen Sie her. Das Zeichen des Tieres. Das machen Ärzte. Sie stecken Zeug in einen rein und saugen anderes Zeug heraus.«
    »Sag mir, was dein Vater für ein Mensch ist, Bethany. Selbst wenn du mit gemischten Gefühlen an ihn denkst, wüsste ich gern, ob du ihn irgendwie beschreiben kannst.« Sie schüttelt den Kopf. »Oder deine Mutter.«
    »Hey, ich erzähle Ihnen was. Eine nützliche Tatsache über Elektrizität. Angeblich schlägt der Blitz nie zweimal an derselben Stelle ein. Aber es gibt Leute, die schon dreimal getroffen wurden. Das liegt an dem Metall in ihrem Blut. Mein Blut ist voller Metall.«
    »Hast du das Gefühl, Schwierigkeiten anzuziehen?«, frage ich und rolle ein Stück Kreide zwischen den Fingern. Ich verspüre |76| den intuitiven Drang, selbst etwas zu zeichnen – besser gesagt, irgendetwas zu hinterlassen, um mir zu beweisen, dass ich existiere. Doch etwas Archaisches tief in meinem Inneren, das eigenen geheimnisvollen emotionalen Regeln und Ritualen gehorcht, verbietet es mir. Bethany schüttelt den Kopf und lächelt milde.
    »Mit Therapeutenfragen kommen Sie nicht weiter. Versuchen Sie es mal mit richtigen Fragen.«
    »Schlag du doch was vor. Komm, wie wäre es mit einem Rollentausch?«
    »Netter Versuch«, meint sie lachend. »Aber wer will schon mit einem Spasti die Rollen tauschen?«
    Ich fange an, die Töpferecke aufzuräumen. Eine Minute später klingelt es zum Essen, und die Krankenschwester bringt sie weg.
    Draußen ballen sich die Wolken zusammen und entfalten sich zu lautlosen grauen Dampfwellen. Als ich ihre Bewegung betrachte, wird mir klar, dass ich Bethany brauche. Wenn ich mich auf sie konzentriere, auch wenn es mitunter ausgesprochen unerfreulich ist, kann ich mich selbst vergessen. Und ich weiß, dass Vergessen süchtig machen kann. Bethany empfindet keine Liebe für diese Welt. Wenn man, vielleicht mit gutem Grund, so fühlt und glaubt, man sei mit vierzehn gestorben, gibt es Schlimmeres, als hier drinnen zu sein und sich als Geist zu sehen, als eine Art zornige elektrische Gaia mit übermenschlichen Kräften. Warum nicht diese Illusion nähren, wenn man mit verheerenden Prognosen über die Klimaerwärmung bombardiert wird und seine Kindheit mit der Idee des Höllenfeuers verbracht hat? Durch den zeitweiligen Gedächtnisverlust, den die EKT verursacht, kann man jede Woche wiedergeboren werden und zügellose Drohungen ausstoßen oder, wenn einem danach ist, in kleinen, verkapselten Dingen Trost finden, den eigenen Ängsten und Träumen. Ich kenne das aus eigener Erfahrung: die Hoffnungen, die man stillschweigend abgelegt oder zornig beiseitegeworfen hat, den hartnäckigen Glauben, dass die Menschheit in einem absurden, sinnlos gewordenen Universum von Bedeutung sei.
    |77| Inzwischen ist der Himmel fast schwarz. Es könnte Nacht sein. Die Töpferecke ist in einem katastrophalen Zustand, und ich komme erst eine halbe Stunde später dazu, kurz bevor die nächste Sitzung beginnt, mir den Tisch mit Bethanys Zeichnungen anzuschauen. Dort entdecke ich neben Himmelslandschaften und Himmelsspringern eine ungelenke Zeichnung, mit rotem Buntstift gemacht. Sie könnte von einer Achtjährigen stammen. Ein Strichmännchen, das verrenkt daliegt. Weiblich, nach den dreieckigen Brüsten und dem dreieckigen Rock zu urteilen.
    Aus einem Auge ragt etwas hervor.
     
    Mary, meine Physiotherapeutin in der Reha, hat mir erzählt, dass immer mehr junge Menschen Schlaganfälle erleiden. Eine Folge von Alkohol- und Drogenmissbrauch, über die seltsamerweise kaum je berichtet wird. Viele Rollstuhlfahrer sind in meinem Alter oder noch jünger und werden oft von Eltern oder sogar Großeltern begleitet. Das merke ich, wenn ich bei meinen Ausflügen am frühen Morgen einen ungelenken kleinen Tanz vor einem anderen Rollstuhl aufführe, um meinem
camarade de guerre
genügend Platz auf dem Gehweg zu lassen. Wer sich noch der Gabe der Sprache erfreut, kann sich über Hundescheiße austauschen und den Rollstuhl seines Gegenübers inspizieren, wie andere Autos anschauen oder Mütter ihre Kleinkinder vergleichen. Wir lächeln wehmütig, weil wir in einer Welt leben, in der das Praktische und die kleinsten körperlichen Genüsse – der zarte

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