Endzeit
Nachgeschmack von Artischocken, ein bestimmtes Musikstück, ganz zu schweigen von den neuen erogenen Zonen, die das ersetzen, was wir verloren haben – mehr bedeuten, als wir uns je hätten vorstellen können. Ob es mir nun gefällt oder nicht, ich bin Mitglied einer Gemeinschaft geworden. Dabei würde ich mir lieber den Kopf abhacken, als in einen Verein einzutreten oder Rollstuhlfahrer zu beraten, Dinge, für die ich durchaus qualifiziert wäre. Ich habe genug mit mir selbst zu tun. Und wie gut ich das mache!
Ich habe einen Job und ein eigenes Büro und eine Grünlilie, die |78| sich hartnäckig weigert zu sterben, sosehr ich sie auch mit Kaffee gieße. Außerdem bin ich für mehrere bekloppte Teenager verantwortlich, darunter eine sechzehnjährige Mörderin, die von der Apokalypse besessen ist.
Sei dankbar für das, was du hast, Gabrielle.
Lass Worten Taten folgen. Cuando te tengo a ti, vida, cuanto te quiero.
Führe ein verdammtes Dankbarkeitstagebuch.
Als ich von meinem Morgenausflug nach Hause komme, warten ein Päckchen und eine Karte auf mich. Die unregelmäßige Handschrift auf dem Päckchen stammt von meiner Freundin Lily. Sie befiehlt mir, einen wunderbaren Tag zu haben. Im Päckchen liegt etwas Weiches, das in duftendes Seidenpapier gehüllt ist. Stoff, ein Stoff, der sich ungemein teuer anfühlt. Als ich das Papier auseinanderschlage, fließt rote Seide auf meinen Schoß. Ein Kleid. Ich halte es vor mich. Es hat Spaghettiträger, einen gewagten Ausschnitt und Pailletten am Saum: ein Kleid, für das ein brasilianischer Transsexueller einen Mord begehen würde. Mir schießen Tränen in die Augen, als ich begreife, welcher Tag heute ist und was ich verdrängt habe. Bin ich mir selbst wirklich so fremd geworden?
Die Karte stammt von meinem Bruder Pierre und seiner Familie in Kanada. Joel, der neun Minuten jüngere Zwilling, schickt eine Zeichnung von mir im Rollstuhl. Ich halte einen Ballon in der Hand. Mein Lächeln sieht aus wie eine Banane, und ich habe die langen, gebogenen Wimpern einer Schönheitskönigin.
Später an diesem Tag geraten vier chronisch fettleibige Mädchen bei der Bewegungstherapie in Streit, und ich muss Verstärkung rufen. Als man mir sagt, ich solle zu Dr. Sheldon-Gray ins Büro kommen, bin ich so niedergeschlagen, wie es eine Rollstuhlfahrerin ohne Freunde in der Stadt an ihrem sechsunddreißigsten Geburtstag nur sein kann. Aber Sheldon-Gray hat Neuigkeiten. Mein Chef hat nach meiner spontanen Zusage mein gesellschaftliches Debüt für diesen Abend im Armada-Hotel arrangiert.
|79| »Buffet inklusive«, sagt er und reicht mir strahlend die Einladung. »Drinks ab halb acht.«
Aschenputtel geht auf den Ball!
Nach diesem Tag ist die Aussicht wenig verlockend. Als ich ihn um die Einladung bat, befand ich mich in jener optimistischen, neugierigen Stimmung, die mich bisweilen überkommt und der nachzugeben ich mir angewöhnt habe, um die Finsternis auszugleichen. Heute aber bin ich in einem ganz anderen Gemütszustand, und der Gedanke, einen glücklosen Wissenschaftler in die Enge zu treiben und nach dem Hintergrund von Bethanys Wahnvorstellungen zu befragen, erscheint mir jetzt idiotisch, unprofessionell und beschämend naiv.
»Vielen Dank«, antworte ich. »Ich komme sehr gern.«
Kein dramatischer Auftritt in schwindelerregenden High Heels für Gabrielle Fox, denke ich, als ich einige Stunden später eine fettige Pfütze in der gigantischen Industrieküche des Armada-Hotels umfahre. Cinderella ist bescheiden geworden und kommt durch den Lieferanteneingang zum Ball. Die Vordertür ist nicht barrierefrei zugänglich. In ihrem neuen Leben wird sie sich an das Scheppern von Töpfen und Pfannen, das Zischen von Bratfett und das Pfeifen von Dampfkochtöpfen gewöhnen müssen. Herzlichen Glückwunsch! Ich manövriere mich zwischen blubbernden Spülmaschinen, riesigen Herden und saucenbespritzten Gourmetköchen hindurch und verlasse die Küche durch die doppelte Schwingtür. Ein trostloser Korridor führt mich abrupt in das fröhliche Stimmengewirr des Wohltätigkeitsempfangs. Vor mir breitet sich aus, was ich früher genossen habe, seit dem Unfall aber fürchte: Männer im Smoking, Frauen in glitzernden Roben, Kellner mit Tabletts, die Getränke und experimentell aussehende Häppchen servieren. Später wird es zweifellos Reden von Leuten geben, die die unermüdlichen Anstrengungen hinter den Kulissen loben. Ich denke daran, dass ich in einer Mission unterwegs bin: Ich will
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