Endzeit
wie ich es vermeiden kann. Während im Fernsehen das Grauen wie eine pornographische Blume erblüht, schließe ich die Augen, atme tief ein und bin plötzlich wieder im Gestank meiner eigenen privaten Hölle: dem Gestank von Abwasser, Erde, Benzin; den grellen, beinahe überirdischen Folterqualen in Hals und Brust; der seltsamen Leere in meiner unteren Körperhälfte; dem Rauch, der mich würgen lässt; dem scheinbar endlosen Warten auf Hilfe, während ich halb bewusstlos dahindämmere. Alex stöhnt.
Ich hielt mich an seinem Ellbogen fest, dem einzigen Teil von ihm, den ich erreichen konnte. Zumindest fühlte es sich wie ein Ellbogen an. Es regnete große, donnernde Tropfen, lauwarm und seltsam ölig. Wir schienen draußen zu sein. Ich spürte Erde oder Silage oder Kompost oder Schlamm unter mir. Wir waren auf einer Nebenstraße gefahren. Waren das Brennnesseln, die an meinem Arm brannten? Oder war es eine neue, unerträgliche Form der Folter, die das Gehirn aus meinem Kopf fließen und irgendwo über mir schweben ließ, wie ein Zweitmond an einem Himmel ohne Licht, nur erhellt von der gedämpften Strahlung, die den Nächten des 21. Jahrhunderts eigen ist? Ich hatte meinen Atheismus vergessen und murmelte stumm das gewohnheitsmäßige Gebet der Verzweifelten, ein Fisch an Land, der japsend eingeht. Eine leichte Gehirnerschütterung ließ die Sätze wie in einer linguistischen Lostrommel durcheinanderpurzeln.
Wir vergeben unseren Schuldigern, geheiligt werde dein Name, Vater unser, dein Reich komme, unser tägliches Brot, unsere Schuld, wie im Himmel, erlöse uns.
In der Not klammert man sich an jeden Strohhalm.
|93| Das reicht jetzt. »Ich bin dankbar, dass es T9 und nicht C1 ist. Ich bin dankbar, dass ich lebe und nicht tot bin, dass es bei meiner Mutter umgekehrt ist und mein Vater verdammt noch mal nicht mehr weiß, wer ich bin, wenn ich ihn besuche. Ich bin dankbar, dankbar, dankbar,
cuando te tengo a ti, vida, cuanto te quiero
«, murmele ich leicht irre vor mich hin, als ich den Raum verlasse und meine komplizierte Prozedur im Badezimmer starte. Danach kehre ich mit frischer Konzentration zurück und sehe Satellitenbilder mit einem riesigen Wirbel aus weißem Dampf, in dessen Mitte wie ein himmlischer Abfluss das Auge des Hurrikans prangt. Diagramme zeigen, wie Super-Hurrikans entstehen: die erwärmten Meere, die größere Menge an Feuchtigkeit und die Luftströmungen darüber, die Dramen, die aus solchen Kombinationen erwachsen, und die Tatsache, dass sie aufgrund des Klimawandels wohl bald »Teil der Landschaft« werden.
Teil der Landschaft.
Ich lasse den seltsamen Ausdruck auf der Zunge zergehen, während ich die Arme wie Windmühlenflügel kreisen lasse und Menschen, die ich nicht kenne, dabei zusehe, wie sie in Panik geraten, improvisieren, weinen, winken und ertrinken.
Wenn mein Geist in Aufruhr ist, braucht mein Magen Brennstoff. Wie viele schlechte Köche habe auch ich die Zubereitung von Rührei gelernt, um mein Überleben zu sichern. Ich schlage vier Eier in zerlassene Butter und beginne zu rühren. Ich gleiche meinen Mangel an kulinarischen Fähigkeiten durch die Kunst des Kaffeemachens aus: Für die Zubereitung meines Morgengetränks habe ich ein ungeheuer präzises Ritual entwickelt. Dazu gehören das Mahlen kolumbianischer Bohnen, die sorgfältige Befüllung meines kleinen, aber perfekten Perkolators, den ich aus der Wohnung meines Vaters stibitzt habe, nachdem er für immer in seine private Unterwelt abgetaucht war, und das Aufschäumen heißer Milch mit einem batteriebetriebenen Dingsbums, das entfernte Ähnlichkeit mit einem Dildo besitzt. Zehn Minuten später habe ich das Frühstück hinter mir und fühle mich zwar nicht ganz als |94| neuer Mensch (das werde ich nie mehr), aber immerhin zu drei Vierteln neu, was in Sachen Reha schon eine Menge ist. Ich fahre zur Arbeit. Im Radio höre ich weitere Nachrichten über Stella. Endlich dreht sie ab in Richtung Meer.
Durch die offene Tür des Aufenthaltsraums in Oxsmith hört man das rasche Klicken eines Tischtennisspiels und das Dröhnen des Fernsehers, vor dem eine Gruppe Jugendlicher MTV schaut. An der Südostwand liegt ein einsamer Junge auf einem verschlissenen Gebetsteppich und singt tonlos vor sich hin, während ein Tourette-Kind von einem Fuß auf den anderen tritt und Schmähungen murmelt. Ich rolle an einem unglaublich fetten Mädchen vorbei, das sich im Takt der Musik wiegt. Der Bauch quillt über den Bund der Jeans, das Gesicht
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