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Endzeit

Endzeit

Titel: Endzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Jensen
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Telefon.
    |89| Licht fällt durch die Jalousien, aber mir kommt es vor wie mitten in der Nacht. Ich sehe auf den Wecker. Sieben Uhr. Das schnurlose Telefon liegt auf dem Tisch neben der Tür, viel zu weit weg, um es schnell zu erreichen. Also gehe ich nicht ran. Zum einen vermute ich, dass es Lily ist, bei der sich – das weiß ich von unserer Unterhaltung vor ein paar Tagen – wieder eine Liebeskrise anbahnt. Außerdem hauen mich meine Wirbelsäulenträume immer ziemlich um. Es fällt mir schwer, klar zu denken. Mein Kopf tut weh. Gestern Abend habe ich drei Gläser Wein getrunken. Allein. Lektion Nummer eins für Gelähmte: Alkohol tut selten gut. Nach sechsmaligem Klingeln schaltet sich der Anrufbeantworter ein.
    »Tut mir leid, dass ich so früh anrufe, Gabrielle«, sagt er. »Sie schlafen sicher noch. Träumen von neuen Methoden, um   …«
    »Um was?«, frage ich. Seltsam, wie schnell sich eine gelähmte Frau bewegen kann, wenn sie wirklich will.
    »Um Männer aus Inverness anzulocken. Aber jetzt mal was anderes. Es mag sich seltsam anhören, aber ich muss Sie danach fragen. Es geht um diesen Hurrikan im Südatlantik, von dem Ihr psychotischer Fall gesprochen hat. Kind B., meine ich.« Er klingt aufgeregt und ein bisschen übermütig. »Wissen Sie noch, wann er angeblich Rio treffen soll?«
    »Am neunundzwanzigsten.«
    Am anderen Ende ist ein Grunzen und Rascheln zu hören. Offenkundig ist mein schottischer Physiker dabei, sich mit einer Hand anzuziehen, während wir telefonieren. Im Hintergrund läuft Radio Four.
    »Dachte ich mir. Ich wollte es nur noch mal bestätigt haben.«
    »Ist heute der neunundzwanzigste? Worum geht es denn?«
    »Sicher nur ein amüsanter Zufall. Danke, Gabrielle, und nochmals Verzeihung, dass ich Sie geweckt habe, meine Schöne. Ich würde gern weiterreden, aber ich habe in den nächsten Tagen viel zu tun. Schauen Sie sich die Nachrichten an, dann wissen Sie Bescheid. Sieht aus, als müsste ich Sie zum Essen einladen.« Er hängt ein und lässt mich verstört und aufgeregt zurück. Wegen |90| seines Anrufes. Und weil er den interessanten Ausdruck »meine Schöne« gebraucht hat.
    Laut Fernsehnachrichten braut sich im Südatlantik ein Hurrikan zusammen, der sich an der brasilianischen Küste entlangbewegt. Sein Name ist Stella, Masse und Geschwindigkeit weisen ihn als Super-Hurrikan aus.
    Er zieht nach Rio. Genau wie Bethany gesagt hat.

|91| 5
    Das Fernsehen ist ein grausames Medium, das einem ständig ungebetene Besucher ins Wohnzimmer schaufelt. Nach der Werbepause ist die Vernichtung Ehrengast. Der Hurrikan ist dabei, Städte und Dörfer an der brasilianischen Küste dem Erdboden gleichzumachen. Auf der Mattscheibe sieht man zersplitterte Bäume und von Menschenhand bearbeitetes Holz in reißenden Schlammflüssen treiben oder in teuflischen Strudeln kreisen, das Strandgut einer urbanen Katastrophe in seiner ganzen herzzerreißenden Banalität   – Sofas, zerschmetterte Autos, Straßenschilder, Büroeinrichtungen, Plakatwände und menschliche Körper, das alles tanzt wie überdimensionale Korken in der braunen Brühe. Wenn Stella Rio trifft, wird es laut CN N-Kommentator zu einer »Katastrophe von nie dagewesenen Ausmaßen« kommen. Er erklärt anhand rasch aufeinanderfolgender Diagramme, wie der Luftwirbel auf dem Weg nach Süden an Schwungkraft gewinnt. Brasilianer kämpfen sich durch die überfluteten Trümmer ihrer Häuser – hier ein Stück Wellblech, dort ein Türrahmen oder ein Kinderbett. Verzweifelte Menschen klammern sich an Benzinkanister und Ölfässer. In der Zeit, die man braucht, um einen Topf Bohnen zu kochen, wurde ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt.
    Hurrikans können einen Ort bedrohen und dann einen anderen treffen, weil sie willkürlich abdrehen, erklärt ein Meteorologe. Dies gilt insbesondere für Super-Hurrikans. Laut aktuellen Computerberechnungen wird der Hurrikan Stella Rio nicht treffen, sondern sich auf den Ozean hinausbewegen und dort auflösen. Allerdings möchte niemand ein Risiko eingehen. Eingedenk der klaffenden Wunden in New Orleans und Dallas hat ein Massenexodus |92| begonnen, und die Panik führt zu neuen Unglücksfällen. Auf den Ausfallstraßen staut sich der Verkehr kilometerlang, die Züge sind brechend voll.
Viele, viele Menschen werden ausgelöscht. Mitsamt ihren Hühnerställen und armseligen Zäunen und schreienden Bälgern und Hündchen Arschgesicht.
    Manche Albträume machen mich fertig. Ich habe noch nicht herausgefunden,

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