Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Endzeit

Endzeit

Titel: Endzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Jensen
Vom Netzwerk:
erzählt. Ich weiß, dass sie zwei Jahre lang nicht miteinander gesprochen haben, nachdem sie ihn wegen Agnesca verlassen hatte. Ich weiß auch, dass er sie beruflich kontaktierte, als er einen Aufsatz über Unterwasser-Erdrutsche schrieb und ihre Meinung als Geologin hören wollte. Daraus entstand eine E-Mail -Korrespondenz, die sie seither sporadisch weiterführen. Er spricht in vernünftigem, nettem Ton über sie, so wie man über einen gesellschaftlichen Fehltritt spricht, den man sich längst verziehen hat.
    »Du brauchst nichts zu sagen, wenn du nicht möchtest.« Ich ergreife seine Hand. »Bethany will damit nur Macht ausüben. Ich weiß, wie sie funktioniert.« Wir sitzen schweigend da, bis meine Neugier, nein, meine Eifersucht, die Oberhand gewinnt. »Hatte es mit dir und Melina zu tun?«
    Er wirkt verstört. »Nein.«
    »Oh.« Meine Erleichterung ist unangemessen groß. Dann folgt die Frage: Wenn nicht Melina, wer dann?
    »Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll.« Ich spüre seine Erschöpfung. Oder etwas, das darüber hinausgeht, eine andere Dimension. |167| »Gabrielle. Kannst du es dir nicht denken? Es ging um dich.« Plötzlich fehlen mir die Worte. Und etwas sitzt in meiner Kehle fest, sodass ich ihn nicht am Weitersprechen hindern kann. Ich kann nicht sagen, er solle den Mund halten. Dabei will ich das, unbedingt. Sofort. Ganz, ganz dringend. »Gabrielle. Es tut mir leid. Bethany hat mir erzählt, dass du zur Zeit des Unfalls   …« Er hält inne. Schaut mich mit glitzernden Augen an. Es ist eine Qual. Einen flüchtigen Moment lang spüre ich nichts außer dem Kloß in meiner Kehle. »Es tut mir leid. Du hast mich in eine schwierige   … oh Liebes.«
    Eine kurze, beinahe halluzinatorische Erleichterung. Dann ein neuer Schmerz, eine ganz präzise Bewegung in meinem Brustkorb, als würde eine Schraube angezogen.
    »Oh«, sage ich. Dann schließt sich mein Mund, und ich weiß, dass ich ihn nicht wieder öffnen werde. Es ist sinnlos, es zu versuchen. Selbst lautlose Worte können nicht zurückgenommen werden.
    »Gabrielle? Alles in Ordnung?«
    Ich nicke. Er nimmt meine Hände. Ich weiß, er sieht mir in die Augen, aber ich kann seinen Blick nicht erwidern. Stattdessen betrachte ich unsere Hände – seine sommersprossig, meine olivbraun – und erinnere mich an meine erste Begegnung mit Bethany. Etwas, was sie damals gesagt hat, steigt an die Oberfläche.
Wussten Sie nicht, dass Blut ein Gedächtnis besitzt? Wie Fels und Wasser und Luft
.
    »Ist es wahr?«, fragt er schließlich. Mühsam schaue ich zur Wand hinüber. Ein brauner Fleck. Die Form erinnert mich an Frankreich oder Spanien. Wie mag er dort hingekommen sein? Vielleicht hat jemand eine Tasse Kaffee dagegengeworfen. Koffeinfrei. Oder Tee. Wenn Zucker drin war, kleben vielleicht noch winzige Kristalle an der Wand. »Liebes, sprich mit mir.«
    Aber ich kann ihn immer noch nicht ansehen. Ich starre auf den französisch-spanischen Fleck, denke an den Zucker, stelle mir die Kristalle vor, bis die Umrisse verschwimmen. Er steht auf. Hebt |168| mich hoch. Drückt mich ganz fest an seine Brust. Ich spüre seinen Herzschlag, ein stetiges, hartes Hämmern. Meine Beine baumeln herab wie die einer Puppe. Dann setzt er sich hin und nimmt mich auf den Schoß, die Arme um mich geschlungen wie eine Zwangsjacke. Ich kann nicht fliehen, weder vor ihm, noch vor mir, und lehne mich an ihn. Sein Körper ist warm und tröstlich. Eine seltsame Scham überkommt mich wie ein krankhaftes Verlangen.
    »Sie hatte nicht das Recht, es dir zu sagen.«
    »Es tut mir so leid.«
    Wir schweigen einen Moment. Draußen geht die Alarmanlage eines Autos los. Um sie herum spürt man das dunkle Gähnen der Nacht; Vogelschwingen, die heiße Kiefernnadeln streifen, das zarte Ausatmen des Asphalts.
    Ich sage: »Ich wollte ihn Max nennen.«
    »Wie   …«
    »Achtundzwanzigste Woche. Dann sind sie schon lebensfähig. Er war es nicht.«
    Wenn ich jetzt weine, werde ich nie wieder aufhören.
    Also lasse ich es, und wir bleiben eine Weile so sitzen, wie lange, kann ich nicht sagen, und dann trägt er mich die Treppe hinunter und fährt mich durch den warmen Abend nach Hause. Durch die offenen Fenster dringt die heiße, duftschwere Luft herein. Im Bett, in seinen Armen, lasse ich mich schließlich gehen. Frazer Melville weiß, dass es nichts zu sagen gibt, also sagt er auch nichts. Aber er hält mich die ganze Nacht fest. Das ist schon sehr viel.

|169| 7
    Am Morgen schauen wir wieder

Weitere Kostenlose Bücher