Endzeit
hat. »Wenn der Erwärmungsprozess nicht rechtzeitig rückgängig gemacht werden kann, ist die fast vollständige Auslöschung der Spezies Mensch auf lange Sicht unvermeidlich«, schrieb Modak in seinem Artikel für die
Washington Post
. Wenn Bethany von der »Trübsal« spricht, der Verheerung, die sie nicht genauer benennen kann, meint sie dann einfach den klimatologischen Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt, an dem alles kippt, die kritische Schwelle, die Modak bereits überschritten glaubt, oder eine andere, ungeahnte Katastrophe?
Wie soll man etwas verhindern, das man nicht einmal benennen kann?
Ich klicke und klicke und gelange nirgendwo hin.
Feniton Acres ist eine der Ökosiedlungen, die vor der Wohnungskrise aus dem Boden geschossen sind. Ich komme rascher hin als geplant, kurz nach sechs bin ich da. Das Ziel, das ich in mein Navigationssystem eingegeben habe, ist ein Einkaufszentrum mit Parkplatz. Es gibt ein Franchise-Unternehmen für Whirlpools, einen Anglerladen, eine Tierarztpraxis, ein Kino, einige teure Boutiquen, in deren Fenstern Puppen in dezenter Freizeitkleidung zu sehen sind. Dahinter liegt ein Golfplatz. Die Kirche selbst, riesengroß und rosa, ist flach, gewölbt wie der Panzer eines Krebses und erinnert an skandinavische Baukastenarchitektur: |172| ein militant friedfertiges Gebäude in einer künstlichen Umgebung. Belustigt bemerke ich, dass wenigstens hier, zwischen sorgfältig gepflanzten Ebereschen und Fächerahornen, die Krummen und die Lahmen willkommen sind: neben mehreren Behindertenparkplätzen gibt es auch eine Betonrampe, die zum Haupteingang führt.
Wie viele Menschen, die gern einen guten Eindruck machen möchten, zögere ich, bevor ich einen Raum betrete – eine schlechte Angewohnheit, die seit meinem Unfall noch schlimmer geworden ist. Hier aber genieße ich nicht den Luxus, mich vorbereiten zu können. Der Eingang hat wie ein Krankenhaus oder Supermarkt automatische Glastüren. Das Gebäude muss überaus schalldicht sein, denn beim Hineinrollen trifft mich die unerwartet laute Musik wie ein Schlag. Gerade wird ein Kirchenlied mit Disko-Rhythmus gespielt. Die klimatisierte Luft ruft Gänsehaut auf meinen nackten Armen hervor. Drinnen wiegt sich ein Meer von Menschen im Takt der Musik. Alle strahlen vor Glück.
Ein paar Köpfe drehen sich zu mir um, man lächelt mir aufmunternd zu. Unter den etwa fünfhundert Gläubigen sehe ich viel schwarze und braune Haut, sehr viel mehr, als man in einem Ort wie Feniton Acres erwarten würde. Die riesige Halle ist mit Teppich ausgelegt und in einem neutralen Hellblau gestrichen. Ganz vorn, unter einem Betonkreuz auf der weiß getünchten Mauer, spielt eine Band mit Gitarren, Kesselpauken, Blasinstrumenten und Perkussion. Lauter Männer, bis auf die Saxophonistin, ein junges Mädchen in Jeans. Weitere Leute lächeln zur Begrüßung, während mich ein junger Mann im schicken Anzug zu einem Platz weit vorn führt, von dem aus ich das Geschehen überblicken kann. Er gibt mir einen weißen Umschlag und einen Stift und flüstert: »Das ist für Ihren Zehnten. Wir geben alle, was wir können.« Auf dem Umschlag kann man Namen, Adresse und Kreditkartendaten eintragen.
Eine junge Frau in meiner Nähe schaut ins Publikum und wiegt sich mit eleganten Arm- und Handbewegungen, die mir irgendwie |173| bekannt vorkommen. Einige Leute, die nicht mitsingen, schauen sie aufmerksam an. Dann dämmert es mir: Sie sind taub, und die Frau übersetzt das Lied in Gebärdensprache. Ich weiß nicht genau, warum sie das tut, da der Text auf einer riesigen Leinwand in blauer Schrift angezeigt wird.
Ich stehe auf und lasse Jesus ein
Um meine Seele von der Todsünde zu befrein
Ich bete zu ihm Tag und Nacht
Denn sein ist der Weg, und sein ist die Macht.
Vor mir wiegt sich der stämmige Körper einer Frau im Rhythmus.
Dann sehe ich ihn.
Im wirklichen Leben wirkt Leonard Krall breiter, imposanter, lebendiger und menschlicher als auf den geschönten Fotos auf seiner Homepage. Er trägt einen taubengrauen Anzug, der sehr gut geschnitten ist, und hat ein Mikrofon ans Ohr geklemmt. Er sieht nicht aus wie ein Mensch, dessen Frau mit einem Schraubenzieher erstochen wurde und dessen Tochter vom Teufel besessen ist. Er schaut mich flüchtig an und nickt, wobei er seinen ganzen Körper wiegt. Ein glücklicher Mann, könnte man meinen. Ein Mann, der weiß, wer er ist und warum er hier ist. Ein Mann, der sich in seinem Element befindet.
Da ich die Melodie nicht
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