Endzeit
Frau, die ich vor dem Unfall war. »Ich bin nur auf der Durchreise. Im Vorbeifahren hörte ich die Musik …«
»Und konnten nicht widerstehen. Alte Lieblingslieder, was?«
»Das Singen ist tröstlich.«
Er lachte leise. »Besser, als sich mit Essen zu trösten, oder?«
»Was Sie über die Trübsal und die Entrückung gesagt haben, hat etwas in mir zum Schwingen gebracht.« Damit verdiene ich mir einen intensiven Augenkontakt und ein Nicken, mehr nicht. Es ist beunruhigend, dass mich Bethanys braune Augen aus einem anderen Gesicht klug und sanft anblicken.
»Soll ich Ihnen etwas sagen, Penny? Ich kann Jesus in Ihnen spüren.«
Darauf fällt mir keine Antwort ein, die nicht paranoid klingen würde. Hat er mich etwa durchschaut?
»Könnte ich kurz mit Ihnen sprechen, wenn Sie sich verabschiedet haben? Es war nämlich nicht nur die Musik, die mich hergeführt hat«, gestehe ich. Das weckt sein Interesse.
»Natürlich, Penny.« Er richtet sich auf. »Geben Sie mir zehn Minuten«, sagt er und nickt einem vorbeigehenden Mann zu. »Ich werde den Mob der Gerechten hier rausschaffen, dann können wir uns in Ruhe unterhalten.«
Ich warte, während er weitere Hände drückt, mit Männern witzelt, Frauen zuhört, kleinen Kindern scherzhafte Boxhiebe versetzt. Eine Stimmung wie bei einem Grillfest.
Eine Viertelstunde später sind wir allein. »Also, Penny. Was kann ich für Sie tun?«
»Besteht die Trübsal aus verschiedenen Phasen?«
Er schüttelt den Kopf. »Sie kommen ja gleich mit den ganz großen Fragen. Phasen, die gibt es. In der Tat glauben manche Christen, die Trübsal sei bereits angebrochen. Sehen Sie sich um. Krankheiten, Wetterextreme, Katastrophen, Globalisierung, zusammenbrechende Finanzmärkte, Terrorismus, Atheismus. All das könnte man als Symptome werten.«
|179| »Sie glauben also auch, es habe schon angefangen?«
»An schlimmen Tagen tue ich das. Aber wenn man die Heilige Schrift genau liest, erfährt man, dass die wahren Gläubigen vor dem Beginn gerettet werden.«
»Die Entrückung. Sie werden in die Luft gehoben.«
»So sagt es uns die Bibel.«
»Sie haben den Antichristen erwähnt. Also glauben Sie an das Böse?«
Er lacht. »Und ob ich das tue. Wenn Sie Gott ernst nehmen, müssen Sie den Schurken auch ernst nehmen. Vor allem aber glaube ich an das Gute, an die Macht von Gottes Willen und an Gottes Plan. Selbst wenn furchtbare Dinge geschehen. Und Gott sie zuzulassen scheint. Das verwirrt die Menschen, sollte es aber nicht. Wir fragen uns immer nach dem Warum. Mein Gott, warum hast du mich verlassen? Aber Gott weiß, was er tut. Er hat einen Plan. Wir dagegen sind nur Ameisen, Penny. Wir sind zu klein, um seinen Plan zu erkennen. Unser Blick reicht nicht so weit. Unser Problem ist die Arroganz. Wir müssen unsere Arroganz überwinden. Man muss demütig sein, um hinzunehmen, dass Gott alles vorgezeichnet hat, wir es aber nicht immer erkennen können. Viele Dinge, die für uns keinen Sinn ergeben, besitzen für ihn durchaus einen Sinn. Wie ich vorhin schon sagte, blicken wir in einen dunklen Spiegel.« Ein Schatten huscht über sein Gesicht, verschwindet aber augenblicklich. Er grinst. »Ver zeihen Sie, Penny, ich rede ohne Punkt und Komma.«
»Kann das Böse denn angeboren sein? Ich meine, diese Vorstellung von Unschuld und Verderbnis … Kann ein Kind von Natur aus böse sein?«
»Sie kann vom Teufel heimgesucht werden.«
»Sie«, sage ich. Ein winziges Schweigen. Leonard Krall erstarrt kaum merklich, und sein Blick kehrt sich nach innen.
»Der Teufel ist mächtig«, murmelt er schließlich wie zu sich selbst, und zum ersten Mal erkenne ich in seinen Zügen den Kummer eines Mannes, der Frau und Kind verloren hat. »Der |180| Teufel ist heimtückisch. Der Teufel ist boshaft und findet Wege, um die Gerechten vom Pfad der Tugend abzubringen.« Er schaut mich eindringlich an, als suchte er nach dem Jesus, den er vorhin in mir gespürt hat. »Was halten Sie davon, Penny?«
»Die Kirche, der ich angehöre, legt allen Nachdruck auf das Gute. Das Böse hingegen scheint nicht zu existieren. Und ich frage mich immer, ob man das eine ohne das andere haben kann.«
»Politische Korrektheit?« Sein Lächeln ist aufmunternd und kameradschaftlich. »Ich werde keine anderen Kirchen oder Glaubensrichtungen vom Sockel stürzen«, sagt er. »Aber ich bin ein Mann der Bibel. Und wenn man ein Mann der Bibel ist, glaubt man an das, was in der Schrift steht, und man streicht den Teufel nicht einfach
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