Endzeit
Nachrichten. Die staubige Dunstglocke löst sich auf und enthüllt eine erstickte Wüste, trostlos wie hunderttausend Ground Zeros. Sie stellt alles in den Schatten, was ich je gesehen oder mir vorgestellt habe, eine rauchende, glimmende Ödnis, die sich kilometerweit erstreckt, unterbrochen von seltsamen Nischen der Normalität, auf die die Sonne scheint: ein Spielplatz, ein Streifen Park, ein funkelnder See, der mit bunten Tretbooten getupft ist. Moscheekuppeln sind wie kugelförmige Pilze aufgeplatzt, klaffende Höhlen unter dem Himmel. Tausende Menschen sind unter Schutt begraben. Soldaten mit Masken suchen nach Überlebenden, ertasten sich mit Wärmedetektoren und Suchhunden den Weg durch gezackte Vorgebirge aus Stahlbeton.
Ich frage mich, was in Bethany Krall vorgeht, wenn sie die Folgen eines Grauens betrachtet, das sie so präzise vorhergesagt hat. Fühlt sie sich mächtig, stolz, allwissend, unbesiegbar? Oder hat sie in einem Winkel ihrer Psyche furchtbare Angst? Und was ist mit Dr. Ehmet, der wie Millionen andere Menschen Namenslisten, Zeltstädte, selbst gemachte Plakate und Rotkreuz-Zentren nach seiner Familie absucht? Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Mann mit dem laienhaften Haarschnitt, dem tapferen »Ha« und den Hegel-Zitaten für diese Aufgabe gerüstet ist, aber er wird sie dennoch erfüllen. Und sein gebrochenes Herz wird sich zu all den anderen gesellen, die ohne erkennbaren Grund in Sekunden zerschmettert wurden.
In wenigen Tagen wird es verrückte Überlebensgeschichten geben. Ein Kind wird unversehrt aus einem unglaublich engen Erdspalt kriechen. Eine alte Dame wird erzählen, wie ein Glas |170| Maulbeermarmelade ihr das Leben gerettet hat, als sie mit gebrochenen Beinen unter einem Balken eingeklemmt war. Dann spule ich vor, gar nicht so weit, bis die Überlebenden mit den Gegenständen davongetrottet sind, die ihnen viel bedeuten – ein Foto, ein Spielzeug, ein Kaktus, eine Teekanne, ein Koran – und die leere Hülle Istanbuls zurücklassen, die schließlich einstürzt: eine Geisterstadt, ein modernes Angkor Wat. Bald wird die Natur die Oberhand gewinnen. Insekten, Tauben, Eichhörnchen, Eidechsen, Schlangen und Treibsand werden die Ruinen von Wohnungen und Reisebüros, Schulen und Kaufhäusern erobern. Prunkwinden und Bougainvillea in allen Schattierungen werden sich durch die Überbleibsel der Hochhäuser schlängeln und an den verrosteten Stahlgerippen der Krankenhäuser emporsteigen, Alpenveilchen zu leuchtenden Teppichen erblühen; Mohn und Zaunwinde und Rosmarin und Zitronengras überziehen gesplittertes Holz und geborstenen Beton mit ihrem üppigen Grün; Akazien und Paternosterbäume werden die Risse besiedeln und den Asphalt sprengen, um die schlimmste Schönheit heraufzubeschwören: jene Schönheit, die den menschlichen Zusammenbruch feiert.
Wenn etwas eine Marter erduldet hat, sei es nun eine Wirbelsäule oder ein Herz, wird es nie mehr wie früher sein. Das Verlangen ist mit den Nervenenden abgestorben, Impulse haben sich verändert, Empfindungen neue Ausdrucksmöglichkeiten gefunden, bestimmte Muskelbewegungen und emotionale Regungen sind verkalkt. Obwohl ich das seelische Symptom, das in mir wächst und von der Nähe des sommersprossigen Physikers ausgelöst wurde, diagnostizieren kann, gebe ich mich nicht dem Trost hin, den es mir bieten könnte. Ich erkenne es als das, was es ist: eine falsche Empfindung. Wie das neurologische Kribbeln in meinen Beinen ist auch dieses Symptom – manch einer würde es Liebe nennen – der Phantombeweis einer emotionalen Schwäche, die meine Umstände mir nicht erlauben.
In der Mittagspause surfe ich im Netz, öffne Links und ändere Suchbegriffe, springe zurück und steige um auf einen neuen Gedankengang, |171| wenn mir danach ist. Ich überfliege Berichte über den letzten Aufruf der Planetarier, den amerikanischen Ex-Präsidenten wegen »Verbrechen gegen die Erde« anzuklagen. Über die sibirische Tundra, die schneller taut, als es die pessimistischsten Modelle prognostiziert haben. Über die äußeren Ränder des Amazonasbeckens, die sich in riesige Schlammwüsten verwandeln, voller erstickender Fische, und den verbliebenen Urwald, der in absehbarer Zeit verbrennen und zu einer Savanne werden wird: wieder eine grüne Lunge weniger. Über den Golfstrom, der die gewaltigen Mengen arktischen Schmelzwassers aufnimmt, sich verlangsamt, weniger Wärme in den Atlantik pumpt, was dramatische Auswirkungen auf die Küstenverläufe
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