Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Endzeit

Endzeit

Titel: Endzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Jensen
Vom Netzwerk:
dann?«
    »Einfach nur oben«, erwidert Bethany mürrisch. Von draußen ertönen das durchdringende Heulen der Alarmanlage eines Autos, Verkehrslärm, das schwache Geschrei hungriger Möwen. Ich schaue den Physiker an und sehe Frustration. Er will sie verbergen, doch es gelingt ihm nicht. Ich fühle mich hin- und hergerissen. Einerseits fürchte ich, dass die Fragen belastende Erinnerungen in Bethany wachrufen. Doch da wir schon dabei sind, brauche ich eine wichtige Information, eine Information, die das Gleichgewicht der Vernunft wieder herstellt – so weit weg von Joy McConeys Interpretationsansatz wie nur möglich. Wir haben wenig Zeit. Die beiden Krankenschwestern können jeden Augenblick aus der Pause zurückkommen.
    »Hör zu, Bethany. Stell dir vor, du bist genau dort, wo die senkrechte Linie auf den Boden trifft, und folgst ihr einfach.« Sie verzieht das Gesicht, als betrachtete sie eine offene Wunde. »Was siehst du da?«
    Sie scheint verwirrt, dann entsetzt. »Scheiße, da ist Wasser! Überall!« Vor dem Fenster wiegen sich die Kronen der Weißbirken. Ihre Blätter glitzern wie Fischschwärme.
    »Es ist gut, Bethany«, sage ich und nicke dem Physiker zu. Wir haben, wie es aussieht, widerwillig einen vorläufigen Modus vivendi gefunden, der es uns ermöglicht, die gemeinsame Aufgabe zu vollenden. Mehr nicht.
    »Also ist dieses ganze ›Ding‹ unter Wasser? Nicht an Land?«, fragt er.
    »Sieht so aus. Es ist wohl auf dem Meeresboden.«
    »Und wie ist die Temperatur?«
    |217| Sie zittert und blickt verängstigt. »Furchtbar kalt. Wie Eis.«
    »Und wenn du nach oben schaust?«, fragt der Physiker und mustert eindringlich ihr Gesicht. »Wenn du nach oben zum Himmel schaust?« Er wirkt plötzlich aufgeregt. Obwohl ich den Grund nicht kenne, steckt er mich damit an, und ich verspüre eine Art Hoffnung.
    »Es sieht aus wie ein Gerüst. Riesengroß.« Das Bild scheint ihr zu missfallen.
    »Welche Farbe hat es?«
    Die Frage lässt sie kurz innehalten. »Es ist aus Eisen. Es tropft.«
    »Was sonst noch?«
    »Ein Kran.«
    »Welche Farbe hat der Kran?«
    »Gelb.«
    »Ganz sicher?«
    »Scheiße, ich hab doch gesagt, gelb.«
    »Na schön, gelb.«
    »Und es stinkt. Nach faulen Eiern. Toten Quallen. Es ist ekelhaft.«
    Ich verbinde den Geruch von faulen Eiern mit Schwefel, doch das Gesicht des Physikers verrät nichts. »Was hast du sonst noch gesehen?«
    »Nur dieses Gerüst und einen Kran obendrauf und ein paar, na ja, Gebäude auf der Plattform und eine Art   … spitzen Turm. Ich brauche mehr Strom.«
    Der Physiker kneift die Augen zusammen. »Bist du sicher? Nur der Kran und die Plattform und der spitze Turm?« Sie nickt. »Und der Geruch?« Sein Gesicht ist jetzt blass und durchscheinend wie entrahmte Milch. Wir sitzen schweigend da. Irgendwo klingelt ein Telefon.
    »Also, ich muss jetzt gehen«, sagt der Physiker unvermittelt und steht auf. »Ich danke euch beiden. Ihr wart mir eine große Hilfe.«
    »Was ist mit meinem Strom?«, fragt Bethany.
    |218| Er zuckt mit den Schultern. »Wie lange werden sie dich hierbehalten?«
    »Bis mich die Leute in den weißen Kitteln holen.«
    Er sieht sie scharf an, als hätte sie seine Gedanken gelesen.
    Ich schaue ihm ins Gesicht. »Willst du uns nicht verraten, was das alles zu bedeuten hat?«
    Er geht zur Tür und öffnet sie. »Doch, das werde ich. Aber ich kann es leider noch nicht.«
    Meint er etwa, ich lasse ihn so einfach davonmarschieren?
    »Was nun?«, frage ich. Ich bin ihm in den Flur gefolgt, doch er geht einfach weiter.
    »Ich fliege nach Südostasien. Ich werde mich eine Weile aus dem Verkehr ziehen.« Er schaut mich verlegen von der Seite an. Nun, da er bekommen hat, was er wollte, kann er gar nicht schnell genug verschwinden.
    »Südostasien? Was soll das denn? Davon hast du vorher nie gesprochen.«
    Wir erreichen die Doppeltür zur Hauptstation, wo sich unsere Wege trennen. »Ich nehme eine Auszeit. Eine Studienreise. Um botanische Fotos zu machen. Mehr weißt du nicht. Über nichts. Das heute ist nie geschehen. Nichts davon. Wenn wir uns das nächste Mal sehen, wirst du es verstehen.«
    »Was soll das heißen, das heute ist nie geschehen?«
    Er sieht mich nachdenklich an. Der grüne Fleck lockt mich. »Vertraust du mir?«
    Die Verbitterung schlägt über mir zusammen. Ich lache unbehaglich. Im Zweifel empfiehlt sich ein Scherz. »Hältst du mich für blöd?«
    »Nein. Du bist clever und phantasievoll und kannst eigenständig denken. Und das ist genau das, was

Weitere Kostenlose Bücher