Engel auf Abwegen
sie nicht hatte sehen wollen. Als ich das schließlich begriff, vermutete ich, dass sie sie schlecht behandelt hatten, aber das war nicht der Fall gewesen. Meine Tante Cordelia, die Schwester meines Vaters, die einen zweifelhaften Ruf genoss, erzählte mir, dass meine Mutter sich für ihre Familie schämte. Nachdem meine Tante mir das gesagt hatte, schämte ich mich zum ersten Mal für meine Mutter.
»Blythe erklärt zwar allen Leuten genau das Gegenteil«, fügte meine Tante hinzu, »aber sie ist im falschen Stadtteil aufgewachsen, und es ist nur verständlich, dass sie das
verschweigen will, aber ihrer Familie so einfach den Rücken zuzukehren …«
Danach sagte sie kein Wort mehr darüber, aber es war so klar wie das Kristall der Hildebrands, dass meine Mutter sich noch schlimmer als schlimm verhalten hatte. Oder wie Gertie, unsere Köchin, immer zu sagen pflegte: »Ihre Mutter kann einfach nicht gewinnen, weil sie immer verliert.«
Ich habe mich oft gefragt, wie meine Mutter darauf bestehen konnte, so intensiv an meinem Leben teilzunehmen, da sie doch ihre eigenen Eltern so leichtfertig aus ihrem Leben verbannt hatte.
In den nächsten Tagen bis zur großen soirée bei den Grouts half ich Nikki dabei, alle möglichen Dinge zu üben, angefangen bei der Vorstellung (die sie jedes Mal verpatzte) bis zum Hinunterschreiten der Treppe (was ich ihr schließlich untersagte, aus Angst, dass sie sich vor den wichtigen Bürgern von Willow Creek den Hals brechen würde). Dann fragte ich sie kurz über das, was ich versucht hatte ihr beizubringen, ab.
Unter Zuhilfenahme von Zeichnungen und Benimmkarten wiederholte ich mit ihr Gedeck- und Sitzordnung, Dinnermenüs und Konversationsthemen. Wenn ich eine Schule gehabt hätte, wäre sie zurückgestuft und nicht versetzt worden.
Leider waren die Einladungskarten bereits verschickt worden, und die Party raste auf uns zu wie ein Bulle, der auf das rote Tuch des Stierkämpfers losgeht. Einerseits hätte ich mir eine unerwartete Reise nach Dallas gewünscht, aber andererseits plante ich sorgfältig, was ich anziehen würde. Mein nichtschwuler Künstler hatte zugesagt und würde an der Party teilnehmen.
Ich bin wirklich schrecklich.
Ich hatte es zufällig herausgefunden, als Nikki mir erzählte, wer alles kommen würde. Wir waren gerade mit der Sitzordnung beschäftigt, und wissen Sie, was? Der Künstler würde direkt neben mir sitzen. Nicht, dass ich die Absicht hatte zu flirten. Ich flirte nicht – am wenigsten mit Männern, die Frauen bevorzugen. Außerdem war ich noch verheiratet. Aber Tatsache war, dass mein Mann Gott weiß wo war und mein Geld hinauswarf, als wäre er ein arabischer Prinz mit einer Ölquelle im Hinterhof.
Dann kam der Tag der Dinnerparty, und der Himmel war strahlend blau. Es war warm, aber nicht heiß, das perfekte Wetter für eine Party.
Ich kleidete mich mit Sorgfalt und zog eine weiße, weite Organzabluse mit hohem Kragen und Perlenknöpfen über ein weißes Mieder. Ich steckte die Bluse in einen schwarzen Seidenrock, der mir bis über die Knöchel reichte. Dazu trug ich schwarze Satinpumps mit einer kleinen, mit Glitzersteinen versetzten Schnalle. Mein Haar hatte ich auf französische Art elegant nach oben gedreht.
Als ich eine halbe Stunde zu früh bei den Grouts erschien, herrschte dort große Aufregung. Der für gewöhnlich nicht aus der Ruhe zu bringende Howard war extrem nervös, und sein ohnehin rotes Gesicht war noch röter.
»Sie ist verrückt geworden, sage ich Ihnen, verrückt.«
»Von was reden Sie?«
»Sie wirft ihre Klamotten im Zimmer herum und probiert alles Mögliche an …«
»Aber wir haben doch extra Kleidung für heute Abend gekauft.«
»Sagen Sie ihr das mal. Sie sagt, sie will nicht nach unten kommen und wie eine Vogelscheuche aussehen.«
Sie war wirklich irritierend, diese Kombination aus Killeranwalt und verletzlichem Ehemann. Dies war wahrscheinlich der Grund dafür, dass ich mich selbst überraschte und die Frage stellte, die mir durch den Kopf raste:
»Warum wollen Sie unbedingt, dass Nikki der League beitritt? Sie scheinen die Damen der Gesellschaft ohnehin nicht zu mögen, und anständiges Benehmen spielt für Sie auch keine Rolle.«
Er starrte mich eine Sekunde lang an, und seine Verletzlichkeit wurde noch größer. »Einfach so«, murmelte er.
»Einfach so?«, fragte ich auf ein Stichwort.
Er sah mich missmutig an. »Verdammt noch mal, als ich sie heiratete, habe ich mir geschworen, dass ich ihr alles
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