Engel aus Eis
verloren und das herbstliche Glühen angenommen. Ein wunderbarer Tag.
Er stellte sich ans Erkerfenster und blickte hinaus. Die Hände hatte er hinterm Rücken gefaltet. Doch er sah nicht die Bäume hinter dem Grundstück. Oder das Gras, das etwas zu lang geworden war und nun kraftlos auf dem Boden lag. Er sah nur Britta. Die schöne blonde Britta, die er damals, während des Krieges, immer nur als unreifes Mädchen betrachtet hatte. Sie war eine Freundin von Erik, hübsch, aber auch ziemlich eitel. Er hatte nichts für sie übriggehabt. Sie war zu jung. Er war viel zu beschäftigt mit dem, was getan werden musste und was er dazu beitragen konnte. Sie spielte in seiner Welt nur eine höchst periphere Rolle.
Aber nun dachte er an sie. Wie sie gewesen war, als sie sich kürzlich trafen. Nach sechzig Jahren. Sie war noch immer schönund ein bisschen eitel. Doch die Jahre hatten sie verändert. Axel fragte sich, ob er selbst ebenfalls ein anderer geworden war. Vielleicht schon. Oder auch nicht. Möglicherweise hatten die Jahre in den deutschen Lagern ihn fürs Leben gezeichnet. Er hatte so viel gesehen. Unendliches Grauen. Vielleicht waren dadurch tief in seinem Innern Verletzungen entstanden, die nie wieder heilten.
Axel sah andere Gesichter vor sich. Die Menschen, die sie gejagt und gefangen hatten. Nicht in spannenden Verfolgungsjagden wie im Film, sondern durch methodische Arbeit, Disziplin und Genauigkeit. Indem er von seinem Büro aus über fünf Jahrzehnte unermüdlich Akten las und Identitäten, Überweisungen, Reisen und mögliche Zufluchtsorte in Frage stellte und überprüfte. Einen nach dem anderen hatten sie aufgespürt und dafür gesorgt, dass die Schuldigen für Vergehen bestraft wurden, die immer weiter zurücklagen. Sie würden niemals hinterherkommen, das wusste er. Es gab noch so viele von ihnen da draußen, und nun starben immer mehr. Anstatt ihr Leben in Gefangenschaft und Erniedrigung zu beenden, starben sie friedlich an Altersschwäche, ohne mit ihren Taten konfrontiert worden zu sein. Das war es, was ihn antrieb, ihm keine Ruhe ließ, ihn ständig suchen, jagen und von einem Treffen zum anderen hetzen und unendlich viele Archive durchgehen ließ. Solange es da draußen noch einen Einzigen gab, zu dessen Verhaftung er beitragen konnte, wollte er sich nicht zurücklehnen.
Axel starrte aus dem Fenster. Er wusste, dass er besessen war. Seine Arbeit hatte alles andere verschlungen. Sie war die Rettungsleine, an der er sich festhalten konnte, wenn er an sich selbst und seiner Menschlichkeit zweifelte. Solange er auf der Jagd war, brauchte er sich nicht zu fragen, wer er war, und konnte langsam, aber sicher seine Schuld abarbeiten. Indem er niemals stillstand, gelang es ihm, all das abzuschütteln, woran er nicht denken mochte.
Er drehte sich um. Es klingelte an der Tür. Einen Moment lang konnte er sich nicht von den Gesichtern losreißen, die an ihm vorüberflackerten. Dann blinzelte er und ging die Tür öffnen.
»Ach, Sie sind es«, sagte er, als er Paula und Martin erblickte.Kurz übermannte ihn die Müdigkeit. Manchmal hatte er das Gefühl, dass es nie aufhörte.
»Können wir kurz mit Ihnen sprechen?«, fragte Martin freundlich.
»Natürlich, kommen Sie herein.« Wie beim letzten Mal führte Axel sie zur Veranda.
»Gibt es etwas Neues? Das mit Britta habe ich übrigens gehört. Entsetzlich. Ich habe sie und Herman ja erst vor wenigen Tagen gesprochen und kann mir nur schwer vorstellen, dass er …« Axel schüttelte den Kopf.
»Es ist wirklich ein tragisches Ereignis«, erwiderte Paula. »Aber wir bemühen uns, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen.«
»Soweit ich weiß, hat Herman ein Geständnis abgelegt?«
»Ja …« Martin zog das Wort in die Länge. »Bevor wir ihn verhört haben …« Er breitete die Hände aus. »Aus genau diesem Grund wollten wir uns mit Ihnen unterhalten.«
»Selbstverständlich, doch ich habe keine Ahnung, wie ich Ihnen behilflich sein kann.«
»Wir haben uns die Liste der Anrufe angesehen, die von Brittas und Hermans Haus aus getätigt wurden. Ihre Telefonnummer ist dreimal darunter.«
»Eins der Telefonate kann ich Ihnen erklären. Vor ein paar Tagen rief Herman mich an und bat mich, Britta zu besuchen. Ich war ein wenig überrascht, weil wir seit vielen Jahren keinen Kontakt hatten, aber soweit ich ihn verstehen konnte, war sie bedauerlicherweise an Alzheimer erkrankt. Ich hatte das Gefühl, dass Herman gerne jemanden aus der alten Zeit einladen wollte,
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