Engel aus Eis
vormachte.
Und nun würde er mit dieser Lüge weiterleben und wieder an die Arbeit gehen. Die mühsame Jagd musste fortgesetzt werden. Er durfte nicht nachlassen, denn bald war es zu spät, und dann gab es niemanden mehr, der sich noch erinnerte, und niemanden, den man bestrafen konnte. In Kürze würden nur noch die Geschichtsbücher Zeugnis von dem ablegen, was geschehen war.
Axel stand auf und sah sich noch einmal um, bevor er wieder in sein eigenes Zimmer ging. Er musste noch viel einpacken.
Sie war schon lange nicht mehr am Grab ihrer Großeltern gewesen. Das Gespräch mit Axel hatte sie auf den Gedanken gebracht, und sie beschloss, auf dem Rückweg über den Friedhof zu gehen. Erica öffnete das Tor und hörte den Kies unter ihren Füßen knirschen.
Zuerst kam sie am Grab ihrer Eltern vorbei, das auf der linken Seite lag. Sie ging in die Hocke, zupfte ein bisschen Unkraut aus und nahm sich vor, mit frischen Blumen wiederzukommen. Dann starrte sie den Namen ihrer Mutter auf dem Stein an. Elsy Falck. Es gab so viele Fragen, die sie ihr gerne gestellt hätte. Wenn nur dieser Autounfall vor vier Jahren nicht passiert wäre, könnte sie jetzt mit ihr sprechen und bräuchte sich nicht mühsam zusammenzureimen, warum sie so gewesen war.
Als Kind hatte sie die Schuld bei sich gesucht. Als Erwachsene auch. Sie hatte geglaubt, der Fehler läge bei ihr. Warum sonst berührte ihre Mutter sie nie und sprach nie mit ihr, sondern immer nur zu ihr? Wieso sagte sie ihr nie, dass sie sie lieb- oder wenigstens gernhatte? Lange hatte sie das Gefühl mit sich herumgeschleppt, nicht gut genug zu sein. Natürlich hatte ihr Vater einiges ausgeglichen. Tore hatte ihr und Anna so viel Zeit und Liebegeschenkt. Immer hatte er ein offenes Ohr, stets war er bereit, ein aufgeschlagenes Knie zu bemitleiden und eine seiner Töchter in die starken Arme zu nehmen. Doch das hatte nicht gereicht. Jedenfalls nicht, wenn ihre Mutter phasenweise kaum ihren Anblick, geschweige denn ihre Berührungen ertragen konnte.
Deswegen hatte das Bild, das sie sich mittlerweile von ihrer Mutter als jungem Mädchen gemacht hatte, sie so erstaunt. Wieso hatte sich das stille, aber freundliche und sanfte Mädchen, das alle beschrieben, in eine so kalte und distanzierte Frau verwandelt, dass sie sogar ihre eigenen Kinder wie Fremde behandelte?
Erica streckte die Hand aus und berührte den eingravierten Namen ihrer Mutter.
»Was ist mit dir passiert, Mama?«, flüsterte sie und spürte, wie sich ihr die Kehle zuschnürte. Als sie eine Weile später aufstand, war sie noch entschlossener, die Geschichte ihrer Mutter so weit wie möglich zu verfolgen. Da war etwas, das sich noch immer sperrte und trotzdem ans Licht musste. Und sie würde es finden, um jeden Preis.
Erica warf einen letzten Blick auf den Grabstein ihrer Eltern und ging dann ein Stück weiter zu ihren Großeltern. Elof und Hilma Moström. Sie war ihnen nie begegnet. Die Tragödie, bei der ihr Großvater ums Leben gekommen war, hatte sich lange vor ihrer Geburt ereignet, und ihre Großmutter war zehn Jahre nach ihm gestorben. Elsy hatte nie von ihnen gesprochen, aber es freute Erica, dass sie nach allem, was sie bislang bei ihren Nachforschungen in Erfahrung gebracht hatte, warmherzige und beliebte Menschen gewesen waren. Wieder kniete sie sich hin und starrte den Stein an, als könne sie ihn zum Sprechen bewegen. Doch er blieb stumm. Hier gab es nichts zu holen. Wenn sie die Wahrheit finden wollte, musste sie woanders suchen.
Sie ging auf das Gemeindehaus zu und wollte nach Hause, doch am Fuß des Hügels sah sie automatisch nach rechts zu dem großen bemoosten Grabstein, der etwas abseits am Rande des Friedhofs stand. Sie machte noch einen Schritt bergauf, hielt dann aber erneut inne und näherte sich mit klopfendem Herzen dem großen grauen Stein. Aus dem Zusammenhang gerissene Fakten undSätze rasten ihr durch den Kopf. Sie kniff die Augen zusammen, um sicherzugehen, dass sie sich nicht getäuscht hatte, trat noch etwas näher, bis sie ganz dicht vor dem Stein stand und den Text sogar mit dem Finger nachziehen konnte, um sich davon zu überzeugen, dass ihr Gehirn ihr keinen Streich spielte.
Dann krachten in ihrem Kopf alle Fakten an die richtige Stelle. Natürlich. Jetzt wusste sie, was passiert war, zumindest teilweise. Sie zog ihr Handy aus der Tasche und rief mit zitternden Fingern Patrik an. Nun musste er zur Tat schreiten.
Die Töchter waren gerade wieder bei ihm gewesen. Sie kamen jeden
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