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Engel aus Eis

Titel: Engel aus Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Camilla L�ckberg
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dich für diese Geschichte interessierst. Er kam und ging wieder, und ich glaube nicht, dass danach noch jemand von uns Kontakt zu ihm hatte. Woher also deine Neugier?« Frans starrte Kjell an.
    »Ich kann es dir nicht genau sagen«, antwortete der Sohn mürrisch. »Aber wenn es da etwas gibt, dann werde ich es herausfinden, glaub mir.« Er warf seinem Vater einen herausfordernden Blick zu.
    »Das glaube ich dir, Kjell«, erwiderte Frans müde.
    Kjell betrachtete die Hand seines Vaters auf der Sessellehne. Es war die Hand eines alten Mannes. Knittrig, runzlig, sehnig und mit kleinen Altersflecken bedeckt. Sie sah so anders aus als die Hand, an die er sich bei den Waldspaziergängen geklammert hatte. Die war stark, glatt und warm gewesen, wenn sie sich behütend um seine Finger schloss.
    »Es scheint ein gutes Pilzjahr zu werden«, hörte er sich selbst sagen.
    Frans sah ihn verblüfft an. Dann entspannten sich seine Züge, und er antwortete leise: »Das glaube ich auch.«
    Er packte mit militärischer Disziplin. Das hatten ihn die vielen Reisejahre gelehrt. Man durfte nichts dem Zufall überlassen. Eine Hose, die unvorsichtig in den Koffer gelegt wurde, musste er auf einem winzigen Hotelbügelbrett mühsam bügeln. Eine schlampig zugeschraubte Zahnpastatube würde für eine mittlere Katastrophe sorgen. Deshalb wurden alle Gegenstände sorgsam und genau hineingelegt.
    Axel setzte sich aufs Bett. Es war noch dasselbe Zimmer, das er als kleiner Junge gehabt hatte, aber mit den Jahren hatte er doch einiges an der Einrichtung verändert. Er hatte nicht das Gefühl, dass Modellflugzeuge und Comics in das Schlafzimmer eines erwachsenen Mannes passten. Ob er jemals zurückkehren würde? Es war nicht leicht gewesen, die vergangenen Wochen im Hauszu verbringen. Gleichzeitig hatte er das Gefühl gehabt, dass er es tun musste.
    Er stand auf und ging in Eriks Schlafzimmer, das ein paar Türen weiter am anderen Ende des langen Ganges im oberen Stock lag. Lächelnd ließ er sich auf dem Bett seines Bruders nieder. Der Raum war voller Bücher. Natürlich. Die Regale waren überfüllt, und es lagen stapelweise Bücher auf dem Boden. In vielen steckten kleine Klebezettel. Erik war seiner Bücher, der Fakten, Daten und der unumstößlichen Wirklichkeit, die sie ihm bieten konnten, nie überdrüssig geworden. Daher war es für Erik leichter gewesen. Die Wahrheit stand schwarz auf weiß geschrieben. Da gab es keine Grauzonen, keine politischen Ausflüchte oder moralischen Zweideutigkeiten, die Axels täglich Brot waren. Nur konkrete Tatsachen. Die Schlacht bei Hastings 1066. Napoleons Tod 1821. Deutschlands Kapitulation am 8. Mai 1945. Axel griff nach einem Buch, das noch auf Eriks Bett lag. Es war ein dicker Wälzer über den deutschen Wiederaufbau nach dem Krieg. Axel legte ihn wieder zurück. Er wusste alles darüber. Sechzig Jahre lang hatte sein Leben um den Krieg und seine Auswirkungen gekreist. Doch in erster Linie hatte es sich vielleicht um ihn selbst gedreht. Erik hatte das begriffen. Er hatte mit seinem eigenen Leben auf die Mängel von Axels Leben hingewiesen. Hatte sie dargestellt wie trockene Fakten. Scheinbar ohne Gefühl. Doch Axel kannte seinen Bruder gut genug, um zu wissen, dass er hinter seinem Wissen mehr Gefühl verbarg als die meisten anderen Menschen, denen er begegnet war.
    Er wischte sich eine Träne von der Wange. Hier, in Eriks Zimmer, waren die Dinge plötzlich nicht mehr so eindeutig, wie er sie haben wollte. Axels ganzes Leben baute auf der Beseitigung von Zweideutigkeiten auf. Er hatte sein Dasein auf Falsch und Richtig errichtet. Er hatte sich für jemanden ausgegeben, der mit dem Finger auf andere Menschen zeigen und erkennen konnte, zu welchem Lager sie gehörten. Dabei war Erik in seiner stillen kleinen Bücherwelt derjenige gewesen, der alles über Richtig und Falsch wusste. Tief im Innern hatte Axel das immer geahnt. Hatte gewusst, dass das Herauskämpfen aus der Grauzone zwischen Gut und Böse seinem Bruder viel mehr abverlangte als ihm.
    Aber gekämpft hatte Erik. Sechzig Jahre lang sah er Axel kommen und gehen und hörte ihn von seinen Einsätzen im Dienste der Güte berichten. Ließ ihn ein Bild von sich selbst als Held aufstellen, der alles in Ordnung brachte. Schweigend hatte Erik beobachtet und gelauscht. Hatte ihn mit diesem milden Blick hinter den Brillengläsern angesehen und ihn in seinem Irrtum gelassen. Im Grunde hatte Axel immer geahnt, dass er nicht Erik, sondern sich selbst etwas

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