Engel aus Eis
trug, wurde er reich belohnt. Wenn die Schuldigen nach jahrzehntelanger Suche in Archiven, nach unendlich vielen Interviews mit Menschen, die immer schneller vergaßen, von ihrer Vergangenheit eingeholt und zur Rechenschaft gezogen wurden. Dieser Lohn war so viel wert, dass er die Sehnsucht nach dem gewöhnlichen Leben verdrängte. Zumindest hatte er das geglaubt. Doch als er nun vor den Fotos von Herman und Britta stand, dachte er kurz darüber nach, ob es nicht ein Fehler gewesen war, den Tod wichtiger zu nehmen als das Leben.
»Schön«, sagte Axel und kehrte den Bildern den Rücken. Er folgte Herman ins Wohnzimmer und blieb abrupt stehen, als er Britta erblickte. Obwohl Fjällbacka schon lange sein und Eriks Heimathafen war, hatte er Britta seit ewigen Zeiten nicht gesehen. Ihre Wege hatten keinen Grund gehabt, sich zu kreuzen.
Plötzlich fielen die Jahre schonungslos von ihm ab, und er kam ins Straucheln. Sie war noch immer eine Schönheit. Eigentlich war sie viel hübscher gewesen als Elsy, die man eher als niedlich hätte bezeichnen können. Aber Elsy hatte von innen geleuchtet und eine Freundlichkeit ausgestrahlt, mit der Brittas äußerlicheAttraktivität sich nicht messen konnte. Mit den Jahren hatte sich jedoch etwas verändert. Von Brittas früherer Härte und Oberflächlichkeit war nichts geblieben. Sie verströmte nur noch eine warmherzige Mütterlichkeit. Offenbar war sie mit der Zeit gereift.
»Bist du es wirklich?« Sie stand vom Sofa auf. »Axel?« Sie streckte beide Hände nach ihm aus, und er ergriff sie. So viele Jahre waren vergangen. Unfassbar. Sechzig Jahre. Ein ganzes Leben. Als er jünger war, hatte er sich nicht vorstellen können, wie schnell die Zeit verging. Die Hände, die er in seinen hielt, waren runzlig und mit winzigen Altersflecken bedeckt. Die Haare waren nicht mehr dunkel, sondern elegant silberfarben. Britta sah ihm ruhig in die Augen.
»Schön, dich wiederzusehen. Du bist gut gealtert.«
»Lustig, das Gleiche habe ich von dir gedacht.« Axel lächelte.
»Na, dann plaudern wir ein bisschen. Machst du uns einen Kaffee?«
Herman nickte und begann in der Küche zu hantieren. Britta ließ sich auf dem Sofa nieder und hielt noch immer seine Hand fest, als er sich neben sie setzte.
»Tja, dass wir beide auch einmal alt werden. Wer hätte das gedacht?« Sie legte den Kopf schief. Offenbar hat sie ihre kokette Seite nicht ganz abgelegt, dachte Axel amüsiert.
»Ich habe gehört, dass du viel Gutes getan hast.« Britta sah ihn prüfend an. Er wich ihrem Blick aus.
»Was heißt schon gut. Ich habe getan, was getan werden musste. Manche Dinge darf man nicht unter den Teppich kehren.« Er verstummte jäh.
»Da hast du recht«, erwiderte Britta in ernstem Ton.
Schweigend saßen sie nebeneinander und blickten hinaus auf die Bucht, bis Herman auf einem geblümten Tablett den Kaffee und die Tassen brachte.
»Danke, Liebling«, sagte Britta. Axel brach es fast das Herz, als er den Blick sah, den die beiden einander zuwarfen. Er erinnerte sich selbst daran, dass seine Arbeit zum Seelenfrieden vieler Menschen beigetragen hatte. Ihnen war die Befriedigung vergönnt, ihre Peiniger vor Gericht zu sehen. Auch das war eine Art,Liebe zu geben. Sie war nicht persönlich oder körperlich, aber es war Liebe.
Britta schien seine Gedanken gelesen zu haben. Sie reichte ihm eine Tasse Kaffee. »Hast du ein gutes Leben gehabt, Axel?«
Die Frage war so komplex und vielschichtig, dass er sie nicht beantworten konnte. Er sah Erik und seine Freunde zu Hause in der Bibliothek vor sich, sorglos und unbekümmert. Elsy mit dem milden Lächeln und der sanften Art. Frans, der allen in seiner Umgebung das Gefühl vermittelte, auf einem Vulkan zu tanzen, der aber trotzdem etwas Zartes und Zerbrechliches an sich hatte. Britta, die jetzt so anders wirkte als damals. Sie hatte ihre Schönheit wie einen Schild getragen, und er hatte sie verurteilt. Damals sah er nur eine leere Hülle in ihr. Vielleicht war sie das ja auch. Mit den Jahren hatte sie sich gefüllt, und nun schien auch sie von innen zu leuchten. Und Erik? Der Gedanke an ihn war so schmerzhaft, dass sein Gehirn ihn wegstoßen wollte, doch hier in Brittas Wohnzimmer zwang Axel sich, ihn so zu sehen, wie er vor der schweren Zeit gewesen war. Am Schreibtisch des Vaters. Die Füße auf der Platte. Die braunen Haare immer ein wenig zerzaust, und dank seines zerstreuten Gesichtsausdrucks wirkte er viel älter, als er in Wirklichkeit war. Erik. Geliebter
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