Engel der Finsternis (German Edition)
Körper würde sich wehren, weil ihr Wille die Macht über ihn bereits verloren hatte. Also beschloss er, es rasch hinter sich zu bringen.
„Vergib mir!“, murmelte er fast unhörbar, mehr zu sich selbst als zu ihr. Alles musste schnell gehen und die Dämonen durften nichts merken. Darum stopfte er Franzi den Saum seines Mantels in den Mund, ignorierte ihr verwirrtes Murmeln und zog das Messer mit einem Ruck aus ihrem Körper. Ein Strahl warmen Blutes schoss aus der Wunde.
Meresin legte seine Hand auf die Wunde und der Blutstrom versiegte. Es roch nach verbrannter Haut. Eine dünne Rauchfahne stieg zwischen seinen Fingern empor. Franzis Körper bäumte sich auf. Sie schlug um sich, versuchte die Hand von ihrer Brust zu reißen und den Mantelsaum auszuspucken. Unerbittlich hielt Meresin sie fest und nahm seine Hand nicht von der Wunde. Es war die einzige Möglichkeit, die Öffnung über ihrem Herzen zu schließen. Dann erschlaffte sie in seinen Armen. Franzi verlor das Bewusstsein. Zumindest glaubte er das im ersten Moment. Meresin merkte rasch, dass etwas nicht stimmte. Unter seiner Hand konnte er ihren Herzschlag nicht mehr spüren.
„Nein!“ Verzweiflung machte sich in ihm breit und mischte sich mit unsäglichem Schmerz, der sein Inneres zu zerreißen drohte. „Nein, Franzi, nein! Das darf nicht sein!“
Ihr Kopf fiel nach hinten, die Augen starr nach oben zum Himmel gerichtet. Meresin beugte sich über sie und blies langsam seinen Atem in ihren Körper. Dann sprach er die altbekannten, magischen Worte, welche die Engel seit jeher benutzten, wenn sie den Hauch des Lebens an ein anderes Wesen weitergaben. Drei Mal musste er dieses Ritual wiederholen, ehe Franzi sich schwach wieder zu bewegen begann.
„Alles ist gut. Du wirst leben.“
„Meresin …“ Trauer stand in ihrem Blick und ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Ich muss dich verlassen.“
„Nein“, widersprach er heftig und schüttelte vehement den Kopf. Zum ersten Mal, seit sie sich begegnet waren, hörte Franzi so etwas wie Furcht in seiner Stimme. „Du darfst nicht sterben. Bitte nicht. Bleib bei mir!“
Franzi hob ihre Hand zu seinem Gesicht und wischte sanft eine Träne von seiner Wange. „Ich wusste nicht, dass Engel weinen“, flüsterte sie. Ihr Blick schien entrückt, als wäre sie vollkommen in Gedanken versunken.
Meresin sah auf sie herab und wusste nicht, was er sagen sollte. Was konnte er tun, um sie bei sich zu behalten? Er wusste es nicht.
„Er hat zu mir gesprochen.“
„Wer?“
„Der Erzengel. Er wartet bereits auf mich. Ich muss gehen, Meresin. Vergiss mich nicht.“
„Niemals!“ Er legte seine Hand auf ihre, die noch immer an seiner Wange lag und ihn sanft streichelte.
„Ich hatte so sehr gehofft, an deiner Seite alt werden zu können.“ Wieder hustete sie. Meresin sah, wie das Leben aus ihr wich - diesmal endgültig. Und er würde sie nicht zurückholen können.
„Wo bist du? Ich kann dich nicht mehr sehen.“
„Ich bin hier, Franzi.“
„Bring mich nach Hause.“
Meresin verließ mit ihr die Baumhöhle, sah sich nach den Verfolgern um und stieg dann über die Bäume empor, nachdem er sich vergewissert hatte, dass sie nicht in der Nähe waren. Als Franzi gesagt hatte, er solle sie heimbringen, meinte sie, er solle sie an den Ort bringen, an dem sich die Seelen der Bauern versammelten, wenn sie den Weg ins Jenseits antraten. Dort warteten sie auf den Erzengel, der sie ins Jenseits geleitete. Und dieser Ort war die Dorfkirche.
Als Meresin im Dorf ankam, dämmerte es bereits. Franzi lag reglos in seinen Armen und atmete nur noch ganz schwach. Im Dunkel des Kirchenschiffs ging er in die Knie und hielt sie in den Armen. Er betrachtete ihr liebreizendes Gesicht. Es waren die Züge einer Sterbenden, die bereits ihren Frieden mit Gott gemacht hatte. Sie fühlte weder Schmerz noch Furcht. Ihr Körper war entspannt, fast federleicht. Alle Sorgen und Leiden waren von ihm abgefallen.
Meresin hatte schon oft Menschen sterben gesehen. Meistens waren sie voller Angst. Sie kämpften verbissen gegen ihr Ende an, weil sie wussten, was sie erwartete. Er hatte Frauen gesehen, die wie Berserker mit dem Tod rangen und scheinbar gottlose Männer, die heulend und wehklagend zusammenbrachen wie kleine Kinder, als sie gehen sollten. Sie alle fürchteten sich vor dem Gang ins Jenseits, denn für sie bedeutete es Fegefeuer oder ewige Höllenqualen. Franzi hingegen war vollkommen ruhig. Der Erzengel hatte bereits zu ihr
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