Engel der Finsternis (German Edition)
so sehr mitgenommen, wollte er doch die Zugbrücke so rasch wie möglich geschlossen wissen und die Bewohner der Burg in den Häusern haben. Er würde in dieser Nacht ebenso wenig schlafen können wie alle anderen. Wenigstens hatte er mit seiner barschen Art dafür gesorgt, dass Hieronymus erst gar nicht auf die Idee gekommen war, ihn zu fragen, ob er mit ihm am Leichnam seiner Frau Wache halten wollte. Nun sah er sich nach Ablenkung für die kommenden Stunden um. Sein Blick fiel auf die Bauernmagd, mit der er sich vergnügt hatte, als seine Frau im Kindbett lag. Einen Moment spielte er mit dem Gedanken, sie zu sich bringen zu lassen. Dann sah er das Mädchen neben ihr - Franzi.
War sie ihm nicht an diesem Morgen ausgewichen? Hatte er nicht sie zu sich bestellt? Walburga hatte gemeint, ihre Schwester fühle sich nicht wohl. Franzi war auch jetzt noch blass und wirkte müde und geistesabwesend. Aber er würde schon dafür sorgen, dass sich ihr Zustand besserte.
Franzi wollte gerade die Kapelle zusammen mit Heidrun und Walburga verlassen, als ein Junge sie am Arm packte. Erschrocken drehte sie sich um. Der Junge trug die Tracht eines Pagen und war etwa zwölf oder dreizehn Jahre alt. Sobald Franzi ihn anblickte, zog er angewidert seine Hand zurück und wischte sie sich an seinem Umhang ab.
„Hast du mich nicht verstanden?“, wollte er aufgebracht wissen. „Bleib gefälligst stehen, wenn man dich ruft.“
Der Page war zwar nur ein Junge, aber er stammte aus einer edlen Familie und musste somit mit Respekt behandelt werden. Ihn zu beleidigen oder zu verärgern, bedeutete Stockschläge oder Pranger. „Der Sturm, junger Herr, man versteht sein eigenes Wort nicht“, entschuldigte sich Franzi und nahm rasch das Tuch vom Kopf, mit dem sie ihr Gesicht hatte schützen wollen, und trat zur Seite.
Die Bauern und Handwerker strömten aus der Kapelle und hasteten über den Burghof in die Finsternis davon. Jeder blickte sich ängstlich um, als er den Schutz des Gotteshauses verließ. Viele murmelten Gebete und bekreuzigten sich. Es kam zu Rempeleien und Balgereien. Bei der geringsten Berührung mit einem anderen zuckten sie erschrocken zusammen und schlugen wild um sich. Überall vermutete man die Weiber des Wilden Heeres.
Meresin sah sie durch die Lüfte sausen auf ihren Besen. Mit wildem Geschrei umkreisten und verfolgten sie die flüchtenden Bauern, ohne sich ihnen zu zeigen. Immer wieder stießen sie auf die Männer und Frauen herab, flogen dicht über deren Köpfe hinweg und verschwanden wieder im dichten Schneetreiben. Hätten sie sich nicht so sehr vor Agreas gefürchtet, sie wären auf der Stelle über die hilflosen Menschen hergefallen. So aber blieben sie unsichtbar und mussten sich damit begnügen, den verängstigten Bauern nach Mahrweiler zu folgen. Erst dort durften sie tun, wonach ihnen der Sinn stand. So hatte es Agreas entschieden.
„Warum?“, fragte Agreas.
Meresin ließ Franzi nicht aus den Augen, als er antwortete. „Was meinst du?“
„Warum hast du das getan? Du hast sie gewarnt. Wieso?“ Nun wandte sich Meresin dem Dämon an seiner Seite doch zu.
„Wovon sprichst du?“
„Die Tochter der Hebamme. Als du sie von Franzi weggerissen hast, hättest du sie auch ganz einfach töten können. Du hast sie absichtlich gegen die Wand geschleudert, habe ich Recht? Du wolltest ihnen ein Zeichen geben.“
Meresin schüttelte den Kopf. „Wieso hätte ich das tun sollen?“
Agreas blieb ihm eine Antwort schuldig. Er richtete seinen Blick nur kurz auf Franzi, verzog sein Gesicht zu einer hässlichen Grimasse und flog davon.
Meresin hatte in jenem Moment tatsächlich nicht daran gedacht, den Menschen in der Kapelle ein Zeichen zu geben. Er hatte nur an Franzi gedacht. Aber Agreas hatte Recht. Meresin hätte die Bucklige mit Leichtigkeit töten und lautlos verschwinden lassen können. Aber in dem Moment war er so zornig gewesen, dass er sie nicht hatte vernichten, sondern nur bestrafen wollen. Vor den Augen der anderen Weiber und in Gegenwart von Agreas und Balam. Er hatte an dem verwachsenen Weiblein ein Exempel statuieren wollen, zur Warnung für alle anderen. An die Menschen in der Kapelle hatte er nicht gedacht. Auch nicht daran, dass er Agreas` Pläne durchkreuzen könnte.
Meresin wusste nicht genau, was Agreas vorgehabt hatte. Aber offenbar hätte in dieser Kapelle noch weit mehr passieren sollen als das, was geschehen war. Dass Agreas die Menschen nun einfach so ziehen ließ, statt sie noch mehr
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