Engel der Kindheit
Erschrocken fuhr Frau Smith, seine Sekretärin, zusammen und sah von ihrem Arbeitsplatz auf. Immer, wenn ihr Chef vom Seniorchef kam, hatte er schlechte Laune. Ansonsten verehrte sie ihn. Stets war er fair und korrekt. Kein böses, ungerechtes Wort kam über seine Lippen. Nur verstand sie nicht, wie ein solcher Mann mit Marie-Luise verheiratet sein konnte. Täglich hielt Marie-Luise sich im Büro ihres Vaters auf, nie erschien sie bei ihrem Mann.
Stinksauer nahm Nils das Jackett von der Stuhllehne seines Schreibtischstuhles, zog es über, schnappte sich seine Aktentasche und verließ das Büro.
„Smithy“, seit langem nannte er seine Sekretärin mit diesem Spitznamen, „ ich geh’ für heute! Ich brauche frische Luft! Wenn etwas Dringendes ist, bin ich über das Handy zu erreichen!“ Nur kurz nickte Nils seiner Sekretärin zu, die ihn mit offenem Mund anstarrte. Ganz egal, was bisher vorgefallen war, aber seinen Arbeitsplatz hatte ihr Chef noch nie verlassen.
Energisch schritt Nils zu seinem Mercedes, startete und fuhr in überhöhter Geschwindigkeit über die Küstenstraße zur Villa.
„Herr Keller?“ Mehr als erstaunt war Maria ihn zu sehen. Zusammen mit Sam saß sie am Frühstückstisch.
„Hallo Maria! Ich ziehe mich nur um! Ich werde segeln gehen!“
Eindeutig hörte man Nils tiefer Stimme den Unmut an, der ihn dazu getrieben hatte.
Das Telefon in der Diele läutete.
„Lassen Sie nur, ich gehe hin!“ Schroff ergriff Nils den Telefonhörer, da er mit dem Anruf seines Schwiegervaters rechnete, der ihn sicherlich zur Rede stellen wollte. Aus dem Dienstbotenaufenthaltsraum kam bereits Louis geeilt, der das Telefon abnehmen wollte. „Keller!“
„Oh, Herr Keller, Sie persönlich! Hier Whitney, Autohaus Whitney! Das Auto Ihrer Frau ist bereit zum Abholen! Natürlich ohne Rechnung, wie sie es gewünscht hat! Die beschädigten, ausgewechselten Teile haben wir vorsorglich sofort entsorgen lassen! Die Polizei war in unserer Werkstatt, aber... ich denke, Sie könnten sich vielleicht in gewisser Weise erkenntlich zeigen. Sie haben nichts Verdächtiges entdeckt. Wir hatten den Porsche Ihrer Frau auf meinem Privatgelände geparkt!“ Süßlich lachte Herr Whitney in den Telefonhörer. Nils, der nicht einmal verstand, um was es genau ging, erwiderte das falsche Lachen.
„Natürlich!“ Hinter seiner Stirn rasten die Gedanken, ähnlich wie der blitzschnelle elektrische Strom in einem Glasfaserkabel. „Ach, Herr Whitney, ich werde den Wagen sofort abholen, könnten Sie vielleicht, nur für mich, eine genaue Aufstellung der Teile machen, die Sie ausgewechselt haben? Mit Datum! Wenn möglich nicht über den Computer, es sollte ja nirgendwo erscheinen! Ich benötige es für meine persönlichen Unterlagen, Sie wissen ja, Frauen! Man sollte ihnen immer vorhalten können, dass sie doch nicht die besseren Autofahrer sind!“ Laut lachte Nils über seinen schalen Witz, hoffte, dass Whitney darauf eingehen würde.
„Natürlich, Herr Keller, ich verstehe! Meine Sandy ruiniert mir laufend einen Wagen nach dem anderen. Wenn man keine Beweise hat, wissen sie nach einem Vierteljahr nichts mehr davon!“ Vollstes Verständnis hatte Whitney für die Sorgen des Ehemannes.
„Ich bin in zehn Minuten bei Ihnen!“ Überlegend legte Nils den Hörer auf die Gabel. Zuerst würde er den Wagen holen, dann würde er sämtliche Zeitungen der letzten Tage durcharbeiten.
„Maria, ich gehe noch einmal!“ Zu Fuß machte Nils sich auf den Weg zu der Werkstatt, die in einem Fußmarsch von ungefähr zehn Minuten zu erreichen war.
„Ah, Herr Keller! Kommen Sie bitte in mein Büro!“ Whitney hatte ihn bereits erwartet. Habgierig warteten seine schauerlichen Augen auf die Entlohnung, die er sich persönlich aneignen würde.
Selbstsicher folgte Nils ihm in das Büro, das im hintersten Teil des Flachdachbaus lag.
„Bitte, nehmen Sie Platz!“ Fleischige Hände deuteten auf den Besucherstuhl. Geschäftsmäßig setzte Nils sich in den Stuhl vor dem gläsernen Schreibtisch, während Whitney mit seinem wuchtigen Leibesumfang dahinter Platz nahm.
„Ich habe Ihnen die Aufstellung der Teile von Hand geschrieben! Wir möchten ja nicht, dass doch noch jemand davon Wind bekommt!“ Geheimnisvoll schob Whitney ihm die zusammengefaltete Seite zu. Flüchtig öffnete Nils sie, überflog den Unfallschaden. Die komplette Frontseite des Porsches musste Marie-Luise zusammengerissen haben, die Kühlerhaube, beide Kotflügel, die Stoßstange.
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